Poetische Tanzmeditation

Von Michaela Schlagenwerth · 26.08.2010
In seiner Heimat Samoa ist Lemi Ponifasio Stammesfürst und Schamane. Gleichzeitig sorgt er als zeitgenössischer Choreograf gemeinsam mit seinem Ensemble international für Furore.
Entspannt lehnt sich Lemi Ponifasio in die dicken, blauen Foyer-Polster des Essener Grillo Theaters. Er ist ein hoch gewachsener Mann, mit einem schönen, einem ausgesprochen gütigen Gesicht. Am Abend zuvor hatte hier sein Tanzstück "Birds with Skymirrors" Premiere. Eine dichte, konzentrierte und ungemein poetische Tanzmeditation. Gespeist aus den alten Traditionen aus Lemi Ponifasios Heimat, dem Inselstaat Samoa im südwestlichen Pazifik. Aber "alt", das ist, zumindest im Zusammenhang mit seinen Stücken, ein Begriff, dem Lemi Ponifasio nicht zustimmen mag.

"'Alte Dinge', das hört sich sehr nach Vergangenem an. Aber ich versuche für den Moment zu arbeiten. Ich bin kein Archäologe, ich möchte Theater für diesen Augenblick machen, für diesen Augenblick der Ewigkeit."

Die Stücke, die Lemi Ponifasio choreografiert, mögen sich aus samoanischen Traditionen speisen. Die Kontexte, in die er diese minimalistischen Tänze stellt, sind radikal zeitgenössisch. Lemi Ponifasio, der heute mit seiner Partnerin und seinem fünfjährigen Sohn in Auckland lebt, ist selbst in vielen verschiedenen Kulturen gleichzeitig groß geworden.

"Meine Eltern waren Leiter der Kirche und so war mein ganzes Leben von sakralem Denken umgeben. Von Kirche und Zeremonien und Singen und all dem."

Aber es hingen auch Poster von Batman und Bruce Lee über dem Bett des jungen Lemi. Fünfzehn Jahre ist er alt, als er seine Eltern, die gleichzeitig auch Schamanen und eine Art Stammesfürsten sind, bittet, Samoa verlassen und in Neuseeland auf die Schule gehen zu dürfen.

"Mein Leben in Samoa war sehr öffentlich. In Neuseeland zu sein war also auch eine Erleichterung."

Bis er 21 Jahre ist, lebt Lemi Ponifasio bei einem Priester in Auckland. Er studiert Philosophie und Politologie, unterrichtet danach ein Jahr in kanadischen Indianerreservaten und studiert dort selbst die indianischen Tänze. Er bereist die USA und Europa und beschäftigt sich in Japan unter anderem mit dem traditionellen No-Theater.

Als Lemi Ponifasio Mitte der 90er-Jahre nach Neuseeland zurückkehrt, gründet er seine eigene Gruppe: das Mau-Ensemble. Benannt nach der friedlichen Unabhängigkeitsbewegung, dank der Samoa 1962 als erste der pazifischen Inseln die neuseeländische Kolonialherrschaft abschütteln konnte. Die Tänzer aus Lemi Ponifasios Compagnie stammen alle von den pazifischen Inseln.

"Wenn sie ihre Heimat verlassen, nenne ich sie Menschen vom Rand. Das heißt, sie hatten Gründe aufzubrechen, fortzugehen. Ich liebe diese Menschen."

Gemeinsam mit ihnen entwickelt Lemi Ponifasio getanzte Theaterrituale, Oratorien. Mit nur wenigen Bewegungen scheinen sich die Tänzer in andere Zustände zu versetzen, sich in Pflanzen oder Tiere verwandeln zu können. Gleichzeitig neben allem Meditativen und Poetischen sind Ponifasios Stücke allerdings auch eminent politisch. Als am 7. Juli 2005 in drei Londoner Bahnhöfen in ein- und ausfahrenden Zügen Bomben explodieren, befindet sich der Choreograf in einem dieser Bahnhöfe.

"Ich habe 'Tempest' gemacht, weil ich in der Liverpool Station festsaß als diese Bomben explodierten. Ich habe mich gefragt, was für einen Sinn das hat. Ich hatte Angst."

Nach seiner Rückkehr nach Neuseeland nimmt Lemi Ponifasio mit dem bekannten maorischen Widerstandskämpfer Tame Iti Kontakt auf.
"Ich frage Tame Iti und seine Mitstreiter und viele andere, wie wir unsere Geschichte definieren wollen. Ob wir sie ständig wiederholen wollen, oder ob wir einen anderen Weg finden."

Es ist eine Frage, die in dem Stück "Tempest: Without a Body", das Lemi Ponifasio gemeinsam mit Tame Iti und dessen Leuten entwickelt, zwar gestellt, aber nicht beantwortet wird. Persönlich mag Lemi Ponifasio, der heute auf Samoa auch selbst als Sala, als eine Art Schamane wirkt, eine bestimmte Meinung haben. Aber unterschiedliche Positionen gleichzeitig gelten lassen zu können, ist Teil seiner Kunst.

Es ist auch Teil der samoanischen Kultur. Manche Häuser haben dort keine Wände, sondern nur ein Dach. In den Zeremonien wie im Alltag geht es darum, sich nicht abzusondern, sondern sich mit den anderen zu harmonisieren. Genau das praktiziert Lemi Ponifasio in seinem Theater.

"Wenn wir Dinge oder Erfahrungen bewusst wahrnehmen, dann verlieren wir sie. Denn in dem Moment machen wir die Performance zu einem Bild unseres eigenen Denkens. Was ich möchte, ist, die Zuschauer in einen vorgedanklichen Zustand bringen."

Einen Zustand, den sie auf Samoa auf andere Weise, durch all ihre Rituale und Zeremonien zu erlangen wissen. Dort zeigt Lemi Ponfasio seine Tanzstücke nicht. Warum? Sie brauchen es nicht!

"They don’t need my dance."


Lemi Ponifasio in der Berliner Volksbühne