Poetische Kommissarin
Marie-Luise Scherer arbeitete von 1974 bis 1998 für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Ihre akribisch recherchierten Reportagen wurden als "literarisch" gefeiert und sind durch eine enorme Beobachtungsgabe kleinster Details geprägt. Scherer wurde mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Börne-Preis ausgezeichnet.
Scherer: "Das bisschen Kapital, was ich habe, ist die Wahrnehmung, ja."
Eine nachgerade "schreckliche Wahrnehmungsfähigkeit" habe Marcel Proust ausgezeichnet, hat Marie-Luise Scherer einmal geschrieben, - sie verfügt über eben dieses Vermögen. Ihre Feder, sagt sie, "schmust nicht", sie seziert, sie will "Sätze mit harter Tatze schreiben". Die 1938 in Saarbrücken geborene und heute im Wendland, in einem kleinen Dorf hinter dem Elbdeich, in Damnatz lebende literarische Reporterin hat einen Widerwillen gegen …
"…weiches, kosendes Schreiben" …"
… ihr Schreiben, ob über die Armut auf Kuba, Volker Schlöndorffs Dreharbeiten zu "Eine Liebe von Swann", Thierry Paulin, den Massenmörder, die "Bestie von Paris", oder über die Familie eines Fixers, dieses Schreiben ist kaltnadelig. Man hat sie eine "poetische Kommissarin" genannt, kühl ermittelnd.
""Ich würde mich keinesfalls als kühl bezeichnen, weil ich mich - um es mal groß und pathetisch auszudrücken - fast zu Tode verstehen kann. Ich weiß es nicht, ich kann sehr viel verstehen an Handlung, die ich nicht begangen habe."
Zum Beispiel hat Marie-Luise Scherer die Reportage "Der unheimliche Ort Berlin" verfasst - über eine junge Frau, die aus der schwäbischen Provinz nach Kreuzberg zog und deren Leiche man Jahre später eines Tages fand. Ein mysteriöser Tod. Marie-Luise Scherer, die Meisterin der "reportierenden Kunst", wie Robert Musil das genannt hat, sie befragte die Angehörigen, vor allem sehr intensiv immer wieder die Mutter des Mädchens.
"Das Leid löst ja die Zunge, und sie hat mir wahnsinnig viel erzählt, und dann stelle ich mir vor, wie sie dann nachts im Bett liegt und sich sagt: O Gott, was hast du dieser Frau alles erzählt? Das ist dann keine kalte Beute, die ich mitnehme. Also ich habe dieser Frau z.B. meinen Pass dagelassen, damit sie einen Faustpfand hat. Und wenn sie irgendwas bereut und mich antreffen will, - irgendwie konnte ich mir vorstellen, dass es ihr nicht geheuer war, was sie mir alles sagte und erzählt hat."
Diese Geschichte - wie viele andere - verfasste Marie-Luise Scherer für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zwischen 1974 und 1998. Rudolf Augstein hatte sie entdeckt, weil sie "gucken" könne, und das können heutzutage nicht mehr viele Reporter: das Detail erblicken, das die Geschichte erst interessant macht. Sie recherchiert minutiös für ihre langen Reportagen, etwa über Kriminalfälle.
"Ich besuche die Häuser und klingele rund um den Wohnort des Opfers, gucke, wenn keiner aufmacht, dann gehe ich ganz oft das Treppenhaus herauf und herunter, fast in der Hoffnung, dass es in die Kleider geht"."
Das Schreiben, sagt Marie-Luise Scherer, falle ihr schwer. Sie muss "die Sätze lange absitzen" (wie sie mal in einem Porträt über den "letzten Surrealisten" Philippe Soupault geschrieben hat), über ihnen brüten - aber nicht nur das fällt ihr schwer.
""Die Recherche finde ich manchmal fast ebenbürtig schwer. Die Recherche deshalb, weil ich das sehr kleinteilig mache, und wenn man zum Beispiel erschöpft und ermattet ist, Sie müssen ja immer Ihrer Neugierde Nahrung geben, die haben Sie aber nicht immer, dann sage ich mir: Jetzt gerade. Wenn ich mir denke: Ach, da wird wohl nichts zu holen sein, wenn du dort hingehst, dann gehe ich gerade hin. Also in dem Moment, in dem ich mir etwas ausreden will, mache ich es gerade, dann gehe ich gerade hin. D.h. auch die unwahrscheinlichsten Informanten suche ich, riskiere natürlich auch, abgewiesen zu werden. Ich gehe die Sache planquadratzentimeterweise ab."
Es mag verwundern, aber das allmähliche Verfertigen ihrer Reportagen bringt es mit sich, dass die Raucherin Marie-Luise Scherer, diese Jägerin auf der Suche nach dem Wort, das sitzt wie ein Handschuh, stundenlang nach der einen treffenden Formulierung, dem alleingültigen Ausdruck für etwas sucht.
"Ich suche eine ganze Nacht nach dem Wort, nach dem Adjektiv dafür, wie ein Mottenmittel riecht. Das ist dann, wenn Sie rauchen für das Adjektiv eines Mottenmittels, schon teuer. Und dann habe ich es aber. Komischerweise habe ich die Gewissheit, dass ich es finde. Das ist ganz komisch, sonst empfinde ich mich gar nicht so ausgestattet, aber bei den Wörtern weiß ich, dass ich es finde."
Und dann fällt ihr für "Dämmerung" auf einmal die Umschreibung "strittiges Licht" ein - und damit hat sie Literatur verfasst. "Der Stil der Reporter ist nun einmal keine Literatur", das steht in Jack Londons Roman "Martin Eden". Marie-Luise Scherer widerlegt diesen Satz mit ihrem Schreiben, Zeile für Zeile. Aber, demutsvoll, wie sie ist, würde sie selbst dies nie sagen.
"Wenn Jack London das sagt, würde ich dem nicht widersprechen. Ich beuge mich den Kategorien. Ich freue mich sehr, wenn jemand sagt: Das ist Literatur, was ich schreibe. Aber wenn Jack London das gesagt hat, nehme ich das auch an. Ich weiß nur, dass ich dem Unwichtigen ein Gewicht geben kann durch Präzision."
Eine nachgerade "schreckliche Wahrnehmungsfähigkeit" habe Marcel Proust ausgezeichnet, hat Marie-Luise Scherer einmal geschrieben, - sie verfügt über eben dieses Vermögen. Ihre Feder, sagt sie, "schmust nicht", sie seziert, sie will "Sätze mit harter Tatze schreiben". Die 1938 in Saarbrücken geborene und heute im Wendland, in einem kleinen Dorf hinter dem Elbdeich, in Damnatz lebende literarische Reporterin hat einen Widerwillen gegen …
"…weiches, kosendes Schreiben" …"
… ihr Schreiben, ob über die Armut auf Kuba, Volker Schlöndorffs Dreharbeiten zu "Eine Liebe von Swann", Thierry Paulin, den Massenmörder, die "Bestie von Paris", oder über die Familie eines Fixers, dieses Schreiben ist kaltnadelig. Man hat sie eine "poetische Kommissarin" genannt, kühl ermittelnd.
""Ich würde mich keinesfalls als kühl bezeichnen, weil ich mich - um es mal groß und pathetisch auszudrücken - fast zu Tode verstehen kann. Ich weiß es nicht, ich kann sehr viel verstehen an Handlung, die ich nicht begangen habe."
Zum Beispiel hat Marie-Luise Scherer die Reportage "Der unheimliche Ort Berlin" verfasst - über eine junge Frau, die aus der schwäbischen Provinz nach Kreuzberg zog und deren Leiche man Jahre später eines Tages fand. Ein mysteriöser Tod. Marie-Luise Scherer, die Meisterin der "reportierenden Kunst", wie Robert Musil das genannt hat, sie befragte die Angehörigen, vor allem sehr intensiv immer wieder die Mutter des Mädchens.
"Das Leid löst ja die Zunge, und sie hat mir wahnsinnig viel erzählt, und dann stelle ich mir vor, wie sie dann nachts im Bett liegt und sich sagt: O Gott, was hast du dieser Frau alles erzählt? Das ist dann keine kalte Beute, die ich mitnehme. Also ich habe dieser Frau z.B. meinen Pass dagelassen, damit sie einen Faustpfand hat. Und wenn sie irgendwas bereut und mich antreffen will, - irgendwie konnte ich mir vorstellen, dass es ihr nicht geheuer war, was sie mir alles sagte und erzählt hat."
Diese Geschichte - wie viele andere - verfasste Marie-Luise Scherer für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zwischen 1974 und 1998. Rudolf Augstein hatte sie entdeckt, weil sie "gucken" könne, und das können heutzutage nicht mehr viele Reporter: das Detail erblicken, das die Geschichte erst interessant macht. Sie recherchiert minutiös für ihre langen Reportagen, etwa über Kriminalfälle.
"Ich besuche die Häuser und klingele rund um den Wohnort des Opfers, gucke, wenn keiner aufmacht, dann gehe ich ganz oft das Treppenhaus herauf und herunter, fast in der Hoffnung, dass es in die Kleider geht"."
Das Schreiben, sagt Marie-Luise Scherer, falle ihr schwer. Sie muss "die Sätze lange absitzen" (wie sie mal in einem Porträt über den "letzten Surrealisten" Philippe Soupault geschrieben hat), über ihnen brüten - aber nicht nur das fällt ihr schwer.
""Die Recherche finde ich manchmal fast ebenbürtig schwer. Die Recherche deshalb, weil ich das sehr kleinteilig mache, und wenn man zum Beispiel erschöpft und ermattet ist, Sie müssen ja immer Ihrer Neugierde Nahrung geben, die haben Sie aber nicht immer, dann sage ich mir: Jetzt gerade. Wenn ich mir denke: Ach, da wird wohl nichts zu holen sein, wenn du dort hingehst, dann gehe ich gerade hin. Also in dem Moment, in dem ich mir etwas ausreden will, mache ich es gerade, dann gehe ich gerade hin. D.h. auch die unwahrscheinlichsten Informanten suche ich, riskiere natürlich auch, abgewiesen zu werden. Ich gehe die Sache planquadratzentimeterweise ab."
Es mag verwundern, aber das allmähliche Verfertigen ihrer Reportagen bringt es mit sich, dass die Raucherin Marie-Luise Scherer, diese Jägerin auf der Suche nach dem Wort, das sitzt wie ein Handschuh, stundenlang nach der einen treffenden Formulierung, dem alleingültigen Ausdruck für etwas sucht.
"Ich suche eine ganze Nacht nach dem Wort, nach dem Adjektiv dafür, wie ein Mottenmittel riecht. Das ist dann, wenn Sie rauchen für das Adjektiv eines Mottenmittels, schon teuer. Und dann habe ich es aber. Komischerweise habe ich die Gewissheit, dass ich es finde. Das ist ganz komisch, sonst empfinde ich mich gar nicht so ausgestattet, aber bei den Wörtern weiß ich, dass ich es finde."
Und dann fällt ihr für "Dämmerung" auf einmal die Umschreibung "strittiges Licht" ein - und damit hat sie Literatur verfasst. "Der Stil der Reporter ist nun einmal keine Literatur", das steht in Jack Londons Roman "Martin Eden". Marie-Luise Scherer widerlegt diesen Satz mit ihrem Schreiben, Zeile für Zeile. Aber, demutsvoll, wie sie ist, würde sie selbst dies nie sagen.
"Wenn Jack London das sagt, würde ich dem nicht widersprechen. Ich beuge mich den Kategorien. Ich freue mich sehr, wenn jemand sagt: Das ist Literatur, was ich schreibe. Aber wenn Jack London das gesagt hat, nehme ich das auch an. Ich weiß nur, dass ich dem Unwichtigen ein Gewicht geben kann durch Präzision."