Mit Volha Hapeyeva und Ronya Othmann

Poesie - ein Überlebensmittel

29:54 Minuten
Auf dem Rasen liegt ein ovaler Spiegel, in dem der Himmel und ein fliegender Vogel zu sehen sind.
"Gedichte können zu einer Art tragbarem Zuhause werden,“ sagt die Schriftstellerin Ronya Othmann. © Unsplash / Jovis Aloor
Moderation: Dorothea Westphal · 26.08.2022
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Die beiden Schriftstellerinnen Ronya Othmann und Volha Hapeyeva befassen sich in ihren neuen Lyrikbänden mit Terror, Vertreibung und dem Verlust der Heimat. Die Poesie sei ihre Heimat, sagt Hapeyeva, ein Überlebensmittel im Exil.
Die Belarussin Volha Hapeyeva lebt seit zwei Jahren in Deutschland. Wegen ihrer regimekritischen Sicht war sie ins Visier des weißrussischen Geheimdienstes geraten. Sie verfasst Romane, Kinderbücher und Lyrik. Ihr neuester Lyrikband „Mutantengarten“ ist neben dem Prosaband „Camel Travel“ das zweite Buch, das von ihr ins Deutsche übersetzt wurde. 2020 war sie Stadtschreiberin in Graz. Zurzeit lebt sie als Stipendiatin des PEN-Programms „Writers in Exile“ in München. In Belarus sei ihr Verlag geschlossen worden. Momentan sehe sie keine Möglichkeit, in ihrem Heimatland zu publizieren.

Ambivalente Situation

Hapeyevas Lyrikband „Mutantengarten“ ist eine Sammlung teilweise in Belarus und teilweise in Österreich entstandener Gedichte. In ihrem Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ beschreibt sie, was es heißt, im Exil zu leben und zu schreiben, „immer wieder neue Lebenskostüme anzuprobieren“. Ihre Lebenssituation bezeichnet sie als ambivalent. Es sei anstrengend, ständig in einer anderen Sprache zu leben. Aber andererseits gebe es hier in Deutschland auch viel mehr Möglichkeiten für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, als es sie in ihrem Heimatland jemals gab.

mutantengarten

langsamer als andere organe
regeneriert sich das herz
ein volles update
gelingt nie
sagt die gebrauchsanweisung
das heißt
denke ich
alle die drin sind bleiben auch drin
vielleicht verschleißt sich der linke teil eines körpers
jemand verliert sein gesicht
und ein neues wächst nach
sprachen werden sich vermischen
wie jahre und namen
mein mutantengarten
wo wir uns abhanden kamen

(Volha Hapeyeva)

Ronya Othmann sagt über die Gedichte ihrer Kollegin Volha Hapeyeva: „Diese Gedichte sind nicht ein wenig wie Prosa. Die Texte enthalten kleine Geschichten.“

Erinnern und Erzählen

Flucht und Exil sind auch Themen von Ronya Othmann. Sie wurde in München geboren. Othmann hat eine deutsche Mutter und einen kurdisch-jesidischen Vater. Ihr Debüt „Die Sommer“ erzählt von Leyla, die in Deutschland aufgewachsen ist und die Sommer bei der Familie des Vaters in einem kurdischen Dorf in Syrien verbringt. Anhand einer Familiengeschichte wird der Bürgerkrieg in Syrien und die Ermordung der Jesiden durch den sogenannten Islamischen Staat geschildert. Othmann hat den Genozid an den Jesiden nicht selbst erlebt, sondern kennt die Geschichten aus den Erzählungen von Verwandten. Schon vor dem Genozid an den Jesiden habe sie angefangen, den Roman zu schreiben. Zuerst schrieb sie nur über das Dorf:
„Als in Syrien die Proteste gegen das Assad-Regime begonnen haben, war ich noch in der Schule. Diese Proteste waren mit Hoffnungen verbunden. Wie auch der Sturz von Saddam Hussein im Irak. Aber dann wurden die islamistischen Gruppen immer stärker und die Gewalt mündete im Genozid. Alle versuchten, das Land zu verlassen, lieber heute als morgen. Für mich war es dann nicht möglich, über etwas anderes zu schreiben. Denn mir wurde auch klar, dass es so ein jesidisches Leben, wie ich es als Kind kennengelernt hatte, nicht mehr geben würde. Ich fing an, über kleine Alltagsverrichtungen wie das Backen von Brot zu schreiben. Nach und nach entstand dann der Roman.“
"die verbrechen" heißt nun ihr Lyrikdebüt, und auch in den Gedichten spiegelt sich das Leid der Jesiden.

Lyrik in Krisenzeiten

In Othmanns Texten geht es um das Erinnern und Erzählen. In fast allen Gedichten arbeitet Othmann mit einem Du. „Das Du ist weiter als das Ich,“ sagt sie. „Das Du kann auch ein Ich sein, es kann ein Selbstgespräch sein, ein Dialog mit einem Abwendenden, vieles eben. Das Du ist etwas, was jeder sein könnte.“

öldistel, kurkuma, walnuss, indigo

im teppichmuseum, fast zuhause, ein
kelimfragment, die tulpen fasern aus.
die krokusse, die blüten.
was deine hand zusammenhält, ein stich,
ein stechen, diese klimatisierte stille,
die jahrhunderte schluckt, eingewoben
in garn tinte faden, bis jemand kommt,
die knoten zu lösen, und erzählt, die skorpione
auf deiner haut, unter deinen lippen die
sonne, du liest in der erde die pflanzen,
in der spindel das garn, in deinem gesicht
die tätowierung.
sieben sommer hast du geweint, disteln
gepflückt, schafe geschoren, du hast
alle deine teppiche zurückgelassen, in
der fremde bist du die fremde.
ausfransende berge hast du geknüpft,
in eichengalle, färberröte, safran, wo
du gehst wie zwischen bäumen in deinem garten.

(Ronya Othmann)

Volha Hapeyeva sagt über die Lyrik von Othmann: „Ich bin beeindruckt. Diese Gedichte haben für mich etwas von Teppichen, die geknüpft werden.“

Inneres Exil

Das Motiv des Abschieds und der Verlust von Heimat verbindet viele Gedichte der beiden Autorinnen. Volha Hapeyeva hat ihrer Heimatstadt Minsk, die sie verlassen musste, eines ihrer neuen Gedichte gewidmet.

meine dunkle dunkle dunkle stadt
unter der schwarzen decke meiner gedanken
in einer dampfend kalten wolke aus basalt
wartet sie – auf meine wiederkunft
sie sagt kein wort
wendet sich unbeteiligt ab
sie ist sich sicher dass ich wiederkomm
entlang der flugbahn meiner schwermut
schuldgefühle schmerzen
die so vertraut ist dass sie einzig möglich scheint
mich dahin heimzuführen in meine
dunkle dunkle stadt

(Volha Hapeyeva)

Und Ronya Othmann beschreibt auch in ihrem Gedicht „ich will jeden vogel noch einmal zum abschied küssen“ eine Erinnerungslandschaft und Wehmut über den Abschied von der Heimat.

ich will jeden vogel noch einmal zum abschied küssen

bevor du in die berge gehst,
meine schwester, dort oben lernst
du deine sprache neu, die silben leihst
du dir von den libellen, die grammatik,
die zwischen deinen schulterblättern
sitzt und schmerzt, du streifst sie ab,
du lernst von den schlangen, je höher
du steigst, wo die sonne über die felsen
leckt wie über eine wunde.

(Ronya Othmann)

Gedichte als tragbares Zuhause

Ronya Othmann sagt: „Gerade in Kriegs- und Krisenzeiten sind Gedichte wichtig. Man braucht sie dann dringend als Lektüre, sie können auch trösten. Gedichte können zu einer Art tragbarem Zuhause werden.“ Und Volha Hapeyeva fügt an: „Lyrik hilft uns, Menschen zu bleiben.“
Beide Autorinnen arbeiten mit verschiedenen Gattungen. Ronya Othmann veröffentlicht in regelmäßigen Abständen die Kolumne „Import Export“ in der FAZ. Für lyrische Texte und ihre Prosa brauche sie eine längere Vorbereitungszeit und sammele erst über einen längeren Zeitraum Material. Volha Hapeyeva ergänzt, dass das Gehirn, je nach dem, was man schreibe, anders funktioniere. „Gedichte sind kurz und konzentriert. Für Prosa braucht man einfach viel länger.“

Wie das Schälen einer Zwiebel

„Man kann in Romanen einiges sagen, was man nicht in Gedichten ausdrücken kann und umgekehrt“, erklärt Othmann. Aus ihrer Sicht gibt es nicht eine literarische Form, in der alles erzählbar sei. Sie habe den Roman und die Gedichte parallel geschrieben. 
„Prosaschreiben ist wie das Schälen einer Zwiebel“, führt Volha Hapeyeva aus: „Man versucht Schicht um Schicht die Geschichte zu erzählen. Und in der Lyrik ist es, als ob man umgekehrt versucht, das Offensichtliche ein bisschen in den Schatten zu stellen - und Geheimnisse zu schaffen.“
Lyrik sei stärker sprachlich konzentriert und deshalb schwerer zu übersetzen, fügt Ronya Othmann hinzu.
(uck)

Ronya Othmann: „die verbrechen“, Carl Hanser Verlag 2021. 112 Seiten, 20 Euro.

Volha Hapeyeva: „Mutantengarten“, Edition Tanhäuser, 2020. Übersetzt aus dem Belarussischen von Matthias Göritz, Martina Jakobson und Uljana Wolf. Mit Federzeichnungen von Christian Thanhäuser. 140 Seiten, 24 Euro

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