Poesie

Tausend Gedichte im Kopf

Der Dichter und Kabarettist Ilhan Atasoy am Dortmunder Borsigplatz, dem Ort seiner Inspiration
Der Dichter und Kabarettist Ilhan Atasoy am Dortmunder Borsigplatz, dem Ort seiner Inspiration © Pressefoto: Franz Luthe
Von Gerhard Richter · 09.04.2014
In seinem Kabarettprogramm "Herr Ober, ein Gedicht bitte!" tritt er als Kellner auf und trägt auf Zuruf der Gäste Gedichte vor. Der in der Türkei geborene Ilhan Atasoy lebt in Dortmund und hat den Mythos vom Land der Dichter und Denker neu belebt.
Ilhan Atasoy: Ich bin eine Leseratte. Ich lese viel, ich schreibe viel. Und man ist ja als Mensch geboren und der Mensch ist nun mal in der Lage, mit Wörtern eine eigene Welt zu schaffen.
Atasoys Welt spielt sich in seinem runden freundlichen Kopf unter den kurzen schwarzen Haaren ab. Als Anregung genügen ihm Bücher und der Dortmunder Borsigplatz, wo er seit Jahren wohnt und dessen Treiben er mit seinen ruhigen dunklen Augen beobachtet.
"Ich muss nicht viele Länder gesehen haben, allein die Stadt Dortmund, allein mein Borsigplatz reicht doch. Bei so vielen Menschen, bei so vielen Ereignissen, und wenn man sich mit Leuten unterhält, da braucht man nur die Augen aufmachen, da kann man schon einiges schreiben."
Eine viel wichtigere Nahrung findet er in Bibliotheken. Er leiht sich Lyrikbände und Anthologien aus und liest sie durch, auf der Suche nach Gedichten, die das beschreiben, was er auch denken könnte.
"Und dann hab ich das Gefühl: Das ist mein Gedicht, nur er hat´s geschrieben. Und dieses Gefühl zu haben ist schon toll."
Gedichte rezitieren als Religion
So fühlt er sich verbunden mit allen vergangenen und allen künftigen Dichtern. Gedichte, die er mag, lernt er gleich auswendig und reiht sie ein in seinen Fundus. Rund tausend Gedichte hat er in seinem Kopf gespeichert. Diesen Schatz pflegt er jede Nacht:
"Also das ist bei mir wie so ein religiöses Ritual: Ich muss kurz vor dem Schlafengehen immer mindestens zehn Gedichte vortragen. Und das mach ich schon seit zwanzig, dreißig Jahren. Das ist meine Religion."
Geboren ist Ilhan Atasoy 1970. Er wächst in einem kleinen Dorf in der Türkei auf. Ohne Fernsehen, ohne Touristen.
"Das Dorf heißt Kurancili, 5000 Einwohner, das war ein ruhiges Leben. (…) Ich konnte damals lesen und schreiben, mehr nicht."
Ilhans Eltern ziehen nach Dortmund, sein Vater bekommt Arbeit als Stahlarbeiter. Ilhan bleibt bei seinem Großvater im türkischen Dorf.
"Ja, lesen und schreiben konnte ich, aber wir hatten keine Zeitung und keine Bücher." (lacht)
Seine Eltern in Dortmund besucht er nur in den Sommerferien. Und da hat er den ersten Kontakt mit Literatur, mit 13 Jahren in der Wohnung seines Onkels:
"An der Wand hing ein Foto und darunter ein Gedicht, und dieses Foto hab ich dann in anderen Ländern auch gesehen. Und dann hab ich erfahren, das war unser größter Dichter Nazim Hikmet."
Sein Onkel versorgt ihn auch weiter mit Lesestoff, weckt so Ilhan Atasoys Leidenschaft.
"Der hat mir auch Bücher mitgebracht, die ich lesen sollte, und dann konnte ich es nicht mehr sein lassen. Also ich kann nicht Nichtlesen."
Stilles Hobby Poet
Als Jugendlicher zieht Ilhan Atasoy dann ganz nach Dortmund und verfolgt hier sein stilles Hobby als Poet. Lesen, schreiben, Lieblingsgedichte auswendig lernen. Einen ersten unerwarteten Auftritt hat er im Deutschunterricht, als alle ein Gedicht mitbringen sollten.
"Und alle die dran kamen, haben einen Zettel in der Hand gehabt. Und als ich dran kam, hab ich alles frei vorgetragen. Und die Lehrerin kam dann mit Namen, kannst du von dem, kannst du von dem? Und ich hab alles vorgetragen und dann waren sie und die Schüler sehr begeistert."
Dieses Erfolgserlebnis hat ihn beflügelt, aber aus Poesie einen Beruf zu machen, daran hat Ilhan Atasoy damals nicht geglaubt. Er beginnt ein Jurastudium, bricht ab und jobbt als Wachmann oder Lagerarbeiter. Und schreibt weiter eigene Texte. Satiren für eine türkische Zeitung. Kurzgeschichten und sehr selten: Eigene Gedichte. Die fallen ihm nur auf Türkisch ein.
"Gedichte bedienen sich meiner Zunge, also ich streng mich da nicht an. Weil das ist so eine Inspiration, es kommt immer in dem Moment."
Seine türkischen Gedichte übersetzt er dann ins Deutsche. Sie werden in Anthologien gedruckt oder er trägt sie bei Wettbewerben vor. Ein Buch hat er veröffentlicht und eine Karriere als Kabarettist begonnen. In seinem Programm: "Herr Ober, ein Gedicht bitte!" tritt er als Kellner auf und trägt auf Zuruf der Gäste Gedichte vor. Vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Mythos vom Land der Dichter und Denker, wiederbelebt von einem Türken. Das irritiert und begeistert.
Bei seinen Auftritten begleitet er sich selbst auf der Saz, einer Art türkischen Gitarre.
"Ich sag immer, das ist nicht nur mein Instrument, ich sag den Zuschauern auch, das ist mein Migrationshintergrund. Ich versuche mit solchen Begriffen zu spielen, mit Ausländersein, was heißt: Türke sein? Deutscher sein? Migrationshintergrund? Ich versuche, die Leute ein bisschen durcheinanderzubringen. Das hilft den Menschen, ein bisschen durcheinander zu sein."
Ein schöner Moment ist für Ilhan Atasoy, wenn ein Gast nach dem Programm in die Bibliothek geht und sich einen Gedichtband leiht. Am schönsten ist es für ihn, wenn jemand seine Gedichte kennt und sogar zitiert. Wie neulich in seiner Heimatstadt Dortmund bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße.
"Ich hab auch mal Jugendliche erlebt, die kamen an und haben meine Gedichte, zwei drei Gedichte vorgetragen, da war ich gerührt. Dafür hat es sich gelohnt, diese Gedichte zu schreiben."