"Poesie setzt einen fragenden Zustand voraus"

Von Camilla Hildebrandt · 12.11.2007
Fabián Casas zählt zu den bedeutendsten Vertretern der jüngeren argentinischen Literatur, er schreibt Prosa, Lyrik und Essays. Casas war Mitglied der "Generation der 90er", die die Poesie von der Last der Altmeister wie Pablo Neruda, Jorge Luis Borges oder Julio Cortázar befreite. Am Sonntag wurde er in Berlin mit dem "Anna-Seghers-Preis" ausgezeichnet.
Ezeiza - von Fabián Casas

"Mein Cousin erscheint mir nicht mehr als Riese
in der Dämmerung dieser Terrasse,
auf der wir sitzen
Zwei Häuser weiter,
die Klammern im Mund
und ein blaues Tuch um den Kopf gewickelt,
hängt eine Frau Wäsche auf ... "


"Ich bin nur dann Autor oder Dichter, wenn ich schreibe, sonst habe ich tausend andere Sachen im Kopf. Die meiste Zeit verbringe ich mit Karate."

In Buenos Aires gehe er jeden Morgen zu einem Dojo (doscho) - einem japanischen Trainingszentrum - sagt der 42-Jährige mit den raspelkurzen Haaren und der runden, schwarzen Brille auf der Nase.

"Ich habe eine sehr melancholische Seite, und wenn ich mich nicht körperlich betätige, werde ich depressiv, deswegen gehe ich jeden Morgen zum Karate, das heißt nachdem ich mit 'Rita' draußen war, unserem Collie."


Gedichtauszug:

"Als der Librettist weg war,
begann das whiskyfarbene Haar meines Cousins,
grau zu werden
und auf irgendeinem Flohmarkt
probiert die Jugend von heute
gerade seine frühere Mähne,
seine Oxfordhosen, seine Plateauschuhe aus,
die ich ihm manchmal klaute,
um mich im Spiegel zu betrachten ..."


Sein erstes Gedicht schreibt Fabián Casas - der einen lila Rollkragenpulli trägt, ein braunes Cordjacket und Jeans - mit 11 Jahren.

Damals interessiert er sich für kaum etwas, so dass die Lehrer sich Sorgen um ihn machen, und ihn auffordern etwas Spannendes von zuhause mitzubringen. Am nächsten Tag präsentiert er "Pomelo" - "Pampelmuse", eine fantastische Geschichte über einen Jungen und seinen besten Freund.

"Die meisten meiner Geschichten spielen in dem Viertel "Boedo", dort bin ich geboren. Ein besonderer Ort, dort entstand der Tango, im Süden der Stadt. Es gibt noch einstöckige Häuser, und als Kinder haben wir immer auf der Straße gespielt; das geht heute nicht mehr. Viele meiner Geschichten haben mit dieser Zeit zu tun."

Nach der Schule schreibt sich Fabián Casas für ein Philosophiestudium ein. Eigentlich wollte er Kunst studieren - genau wie sein Vater, Professor an der Akademie der Künste -, aber sein Cousin bringt ihn auf ganz andere Gedanken.

"Mein Cousin wohnte nebenan, er war Politiker und Maler. Und er hat mir, als ich 12, 13 Jahre alt war, Nietzsche zu lesen gegeben, das hat mich sehr inspiriert! Heute liebe ich Robert Musil, Thomas Bernhard und vor allem Schopenhauer - ich habe alles von ihm gelesen! Ein echtes Genie!"

Poesie entstehe, erklärt Casas, wenn man sich in einem "fragenden Zustand" befinde. Um dahin zu gelangen, inspirierten ihn - neben Musik, die er übrigens den ganzen Tag höre - deutsche Philosophen, erzählt er begeistert.

"Der Journalismus zum Beispiel oder das Leben allgemein ist eher ein Zustand der 'Antwort', man versucht für alles eine Antwort zu finden, tausend Sachen zu machen, die uns beruhigen. Aber Dichten - das findet in einem Zustand der 'Frage' statt. Erst dann ist man dafür bereit, dass sich die Dinge, die einen beschäftigen, in Poesie verwandeln."


Gedichtauszug:

"Die Leute denken gerne
dass sich das Leben ändert. Und viele leben in der Abhängigkeit
von Dingen, die niemals passieren ..."


Zusammen mit seiner Freundin - und Hündin "Rita" - lebt Casas heute in einem ausgebauten Hotel im Stadtteil Montserrat in Buenos Aires. Seinen Unterhalt verdient er als Chefredakteur der Zeitschrift "El Federal". Denn von der Poesie leben, das sei schwer. Und Werbung machen für seine Literatur, das käme gar nicht in Frage!

"Mir gefallen die Autoren am besten, die dich nicht 'suchen', die sich nicht der Verlags- und Werbemaschinerie unterwerfen. -Ich schreibe seit über 20 Jahren, und jetzt bin ich zum Beispiel hier für die Anna-Seghers-Preisverleihung. Irgendjemanden hat wohl gefallen, was ich mache, denn ich selbst habe mich nie darum bemüht, einen Preis zu bekommen!"

Eine sehr große Ehre sei dieser Preis, meint Fabián Casas. Denn Anna Seghers kämpfte unter anderem gegen etwas, was auch ihn sehr beschäftige: die Selbstversklavung.

"Die meisten Menschen haben Angst davor alleine zu sein, deswegen unterwerfen sie sich Gesetzen, Normen, machen sich zu Sklaven, anstatt für ihre Individualität zu kämpfen. Das war Anna Seghers klar!"



Gedichtauszug:

"Der Stuhl meines Cousins ist leer (...) -
Ich wuchs auf und wurde zu einem Anführer.
Was meinen Kampfgefährten anbelangt,
ich sah ihn nie wieder,
jetzt lebt er
nur
in meiner Erinnerung."