Poesie in Bewegung

Reisebücher gibt es viele. Doch nur selten so eines, wie es der 50-jährige Norweger Tomas Espedal geschrieben hat. In seinem Buch "Gehen" verbindet er Roman und Autobiografie, Gesellschaft und Ästhetik, Reflexion und Reportage und erschafft damit ein offenes Kunstwerk.
Tomas Espedal wurde 1961 in Bergen geboren und debütierte 1988 mit dem Roman "Eine wilde Flucht vor dem Parfüm". Das Eigenschaftswort "wild" scheint ihm unabdingbar für eine echte Existenz zu sein. Das vorliegende Buch, sein erstes auf Deutsch, handelt vom Gehen als Voraussetzung für ein "wildes" Leben.

Ja, das Gehen verrät sogar die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die Sehnsucht nach dem Verschwinden, das heißt, "eines Tages zur Tür hinausgehen und nicht wiederkehren". Der Espedal des Buches verlässt seine Frau und sein Kind und geht los. Sein Traum: Er will ein anderer werden. Dementsprechend sein Albtraum: Auf der Straße jenen Mann zu sehen, "den du von allen am meisten fürchtest, du siehst dich selbst".

Mitgedacht wird eben ständig die Unmöglichkeit des Erzählers (der mit dem Autor identisch ist), ein anderer werden zu können. Espedal, der Geistesflaneur, lässt sich nicht von urbanen Reizen, sondern vom Gespräch mit den Größen der Kunst inspirieren. Ihm begegnen Rousseau, Giacometti, Satie, Rimbaud, mit ihnen unterhält er sich über das Gehen. Manchmal trifft er aber auch auf einen lebendigen Menschen, einen Bekannten aus Bergen zum Beispiel, der ihn gleich aus der Illusion, ein anderer zu sein, in die harte Wirklichkeit zurückholt: "Ich" ist eben doch kein anderer.

Dem Gehen bleibt er trotzdem treu, schlicht aus Selbsterhaltungstrieb. Bevor Espedal aus dem Haus ging, befand er sich in einer tiefen Depression, einer "harten und ernsten Untergangsarbeit"; nur das Gehen verheißt ihm so etwas wie Glück. Beim Rauchen und Trinken bleibt er, das Essen ist ihm nicht sehr wichtig, aber durch das Gehen "geht" es ihm besser.

Das Gehen ist eine Form der Reinigung, das Reisen "macht uns jünger". Und es ist die einzige Arbeit, die diesem arbeitsscheuen Müßiggänger zumutbar erscheint. Endlich hat er einen Beruf gefunden: Wandersmann. Er verweist auf Bruce Chatwin, der in den "Traumpfaden" schrieb, das englische "travel" und das französische "travail" hätten denselben Stamm: Arbeit.

Espedals "Gehen" ist ein romantisches Buch, in dem der alte Traum, ein neuer Mensch zu werden, immer anwesend und immer gefährdet ist. Aber der Wille ist ja da. Espedal sucht das wilde Leben, das für ihn gleichbedeutend mit einem poetischen Leben ist; er verschränkt reflexive, kritische und autobiografische Passagen mit epischen und reportagehaften. Dadurch entsteht ein offenes Kunstwerk, wie es Friedrich Schlegel vor gut 200 Jahren vorschwebte.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Tomas Espedal: Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Matthes & Seitz, Berlin 2011
240 Seiten, 19,90 Euro