Helen Pluckrose / James Lindsay: „Zynische Theorien“

Eine Polemik mit Schaum vor dem Mund

06:36 Minuten
Cover des Buchs "Zynische Theorien" von Helen Pluckrose und James Lindsay. Der Titel, in schwarzen Lettern auf weißem Grund, ist mit Regenbogenfarben hinterlegt. Darunter steht als Untertitel: "Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt"
© C.H.Beck

James Lindsay, Helen Pluckrose

Helmut Dierlamm, Sabine Reinhardus

Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nütztC.H. Beck, München 2022

380 Seiten

22,00 Euro

Von Jens Balzer · 21.02.2022
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An Universitäten gibt es keine freien Debatten mehr, die Forschung wird von Dogmen bestimmt: So die These von Helen Pluckrose und James Lindsay. Ihre Polemik gegen Identitätspolitik und Postmodernismus scheitert jedoch an Schlampigkeit und aktivistischem Furor.
Es läuft etwas grundlegend schief an den Universitäten der Gegenwart und insbesondere in den Geisteswissenschaften: In den letzten Jahren hat sich dort ein intellektueller Virus verbreitet, der die Freiheit des Denkens zersetzt.
An die Stelle unvoreingenommener, ergebnisoffener Forschung sind die Dogmen der Identitätspolitik getreten. Wer in der akademischen Welt noch bestehen will, muss wieder und wieder bekräftigen, dass alle weißen Menschen Rassisten sind und alle schwarzen Menschen unschuldige Opfer; oder auch: dass es keine natürliche Geschlechtsidentität gibt und alle heterosexuellen Männer unter einem angeborenen Sexismus leiden, den es ihnen durch Umerziehung abzutrainieren gilt.

Polemischer Durchgang durch Trendfächer

So lautet jedenfalls die These, die James Lindsay und Helen Pluckrose in ihrem Buch „Zynische Theorien“ vertreten: „Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt und warum das niemandem nützt“, so lautet der Untertitel.
In einem polemischen Durchgang durch aktuelle Trendfächer – Gender Studies, Queer Studies, Race Studies, Fat Studies, Social Justice – wollen sie zeigen, warum die aktuelle Fixierung der Akademie auf Gruppenidentitäten und auf das „Empowerment“ von benachteiligten Gruppen jede freie Debatte zerstört.
Schon länger engagieren sich Lindsay und Pluckrose gegen die identitätspolitische Wissenschaft. Bekannt wurden sie vor fünf Jahren, als es ihnen gelang, eine Reihe von satirischen Texten als „echte“ Forschungsbeiträge in entsprechenden Fachmagazinen unterzubringen, zum Beispiel darüber, dass Homo- und Transphobie durch die Einführung von Dildos in den After vorurteilsbeladener Männer geheilt werden kann, oder: über den sexistischen Charakter der astronomischen Forschung, der es eine feministische Astronomie entgegenzusetzen gilt.

Wo liegen die historischen Wurzeln des Blödsinns?

Dass viele ihrer Texte unbehelligt durch die Qualitätsprüfungen gingen, hat sie in ihrer Überzeugung bestärkt, dass an den Universitäten nur noch Blödsinn getrieben wird. In „Zynische Theorien“ versuchen sie nun zu erklären, wo die historischen Wurzeln dieses Blödsinns liegen und warum und in welchen Schritten er dermaßen erfolgreich werden konnte.
Und damit fangen die Probleme an. Denn überall dort, wo sie über die polemische Darstellung der aktuellen Verirrungen hinauszugehen versuchen, scheitern Lindsay und Pluckrose kläglich.
Die Wurzeln der Identitätspolitik suchen sie im „Postmodernismus“ der 60er- und 70er-Jahre und insbesondere bei Michel Foucault. Dessen Darstellung ist aber schlicht falsch, weder ging es in seiner Diskursanalyse um eine „Sprachkritik“, wie sie glauben (und worin sie die Wurzeln für die sprachpolizeilichen Exzesse der Gegenwart sehen), noch lässt er sich für die Fixierung des Denkens auf Identität und – etwa ethnische – Herkunft gebrauchen.

Identität ist veränderbar

Für Foucault war Identität, gerade im Gegenteil, etwas Veränderliches und Veränderbares. Und während sich die aktuelle Identitätspolitik vor allem damit beschäftigt, wer es ist, der oder die etwas sagt – und was daraus für den Wert eines vorgebrachten Arguments folgt –, fragte Foucault nur lakonisch: Wen kümmert’s, wer spricht?
Das ist nur ein Beispiel von vielen. Der historische Rahmen, in den Pluckrose und Lindsay ihre Betrachtungen einzufügen versuchen, ist durchweg schlampig gezimmert. Ihre Diskussion philosophischer Texte bewegt sich unterhalb des Wikipedia-Niveaus.
In ihrem Durchgang durch die aktuellen Verirrungen werfen sie wahllos wissenschaftliche Texte mit Fundstücken aus den sozialen Netzwerken durcheinander und lassen dabei systematisch im Unklaren, wie groß die Relevanz der von ihnen verspotteten Thesen für die Theoriebildung ist.

Die politischen Grundlagen geraten aus dem Blick

Und weil sie sich ausschließlich auf die – vermeintliche – Geschichte des postmodernen Denkens beschränken, geraten ihnen die politischen Grundlagen der von ihnen beschriebenen Entwicklung aus dem Blick, wie auch die Beziehungen zwischen der rechten und der linken Identitätspolitik und ihrer wechselseitigen Eskalation.
Sie betreiben also genau das, was sie ihren Kontrahenten vorwerfen: Sie argumentieren nicht analytisch, sondern aktivistisch, und sie biegen sich ihre Quellen so zurecht, wie es für ihre Zwecke gerade passt.
Das ist schade, denn eine fundierte Kritik etwa des rasenden Gefasels der „Critical Whiteness Theory“ wäre eine verdienstvolle Tat. Dazu bräuchte es intellektuelle Gelassenheit und Genauigkeit – also das, was Pluckrose und Lindsay eigentlich fordern. Aber von ihrem durchweg mit Schaum vor dem Mund geschriebenen Buch ist man auch dann abgestoßen, wenn man die Skepsis gegenüber den identitären Verhärtungen des Denkens der Gegenwart prinzipiell teilt.

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