Plauderei im Speisewagen

Mit Fremden reden - ist das altmodisch?

04:24 Minuten
Ein blauer Zug in Indien in dem Menschen am Fenster sitzend lesen.
Lieber lesen als kommunizieren © Unsplash / Rathish Gandhi
Gedanken von Martin Ahrends · 18.06.2020
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Das zwanglose Gespräch unter Fremden - früher war das bei Zugreisen durchaus üblich. Doch gilt das auch in der Ära der elektronischen Kommunikation? Der Schriftsteller Martin Ahrends hat es im Zugrestaurant ausprobiert.
Man fragt mich für eine Fernseh-Talkshow an, ich bitte mir einen Tag Bedenkzeit aus, den mir die Redakteurin widerwillig, mit einer Mischung aus Belustigung und Beleidigtsein gewährt. Dass das Fernsehen unser Leitmedium ist, weiß ich natürlich. Wie sich diese Machtposition am Telefon anfühlt, hatte ich nicht gewusst. Sei’s drum, ich bedenke mich also, und die Entscheidung nimmt mich so sehr in Anspruch, dass es mich drängt, auf dem Heimweg mit der Bahn im Speisewagen davon anzufangen.
Was hatte ich schon für gute Gespräche in diesen Speisewagen! So unbelastet, heiter, so überraschend tiefgründig. Im Speisewagen erlebe ich Menschen, die sich vorher nie begegnet sind und sich wahrscheinlich nie wiedersehen werden. Eine Gesprächsebene, auf der man belanglos plänkeln oder auf kurzem Weg in höhere Sphären gelangen kann. Man kann erstaunlich offen sein, denn man hat wenig zu verlieren in diesem halb öffentlichen, halb privaten Raum zwischen Abfahrt und Ankunft. In diesem Zwischenraum. Um meinen Landsleuten zu trauen, um sie zu mögen brauche ich diese spontanen Gespräche, die nicht organisiert, nicht institutionell verankert sind und frei von aller Nützlichkeit.

Der Speisewagen als Dschungel des Unvorhersehbaren

Mir gegenüber ist ein Herr meines Alters mit dem Handy befasst, was mich aber nicht hindern wird, ihn zu überfallen. Erst zögere ich noch, weil es nicht mehr so normal ist, wie es früher war, mit diesen Wildfremden, mit denen man das Land bewohnt, aus heiterem Himmel ein Gespräch zu beginnen im Vertrauen, sie hätten ein ähnliches Interesse an dieser Art Austausch und würden den Gesprächsfaden ganz selbstverständlich aufnehmen, wo er gerade liegt: an einer Haltestelle, in einer Warteschlange oder hier, in diesem Zwischenraum. Sicher bin ich mir nicht, tu aber einfach so, als wäre nichts dabei und schieße gleich los:
"Man hat mir angeboten in einer Talkshow mitzumachen, dabei hab ich diese Art, einander ins Wort zu fallen, nie gemocht, diese Kurzatmigkeit, Überspanntheit. Ich kann so kein Gespräch führen, so kann sich nichts Neues entwickeln, so entsteht nichts, was die Beteiligten noch nie gedacht oder gesagt haben, die Statements wirken reproduziert und bleiben nebeneinander stehen. In einem richtigen Gespräch bleibt doch Raum fürs Bedenken, wonach man etwa einen Gedanken abschließen oder sich auf eine Metaebene schwingen kann. In diesen Talkshows ist alles so vorhersehbar, so vorselektiert, nie bekommt man die zu sehen, die abgesagt haben. Damit verglichen ist ein Speisewagen ein Dschungel an Unvorhersehbarem…"

Ein Gesprächsversuch sorgt für Irritation

Mein Gegenüber starrt mich verdattert an und versucht offenbar, meine Gesprächsattacke einzuordnen: Eine Anmache? Anwerbung? Ein psychisch Labiler? Offenbar war er auf so eine analoge Offerte nicht gefasst. Vielleicht hat er eine andere Vorstellung von einem Speisewagen: Man sitzt hier, um etwas zu sich zu nehmen, da Platzmangel herrscht leider nicht separat, sondern notgedrungen in allzu kurzer Distanz zu anderen Reisenden, eine Not, die man zu mindern sucht, indem man auf dem Handy wischt, aus dem Fenster blickt oder in eine Zeitung.
Jetzt rafft er die Gesichtszüge, räuspert sich und spricht: "Ich bin nicht interessiert!" Und da ich ihn nun auch verdattert ansehe, legt er nach: "Ich lehne Ihr Gesprächsangebot dankend ab!" Für mich sind das Sätze aus einer anderen Welt, sie gehören nicht hierher. Auch ich fühle mich deplaziert und wechsle den Platz. Bei nächster Gelegenheit rufe ich die Fernsehredakteurin an und sage ab mit der Begründung, ich sei einfach zu altmodisch. Dass es doch aber gerade um meine Altersgruppe in der Talkshow gehen solle, beharrt sie. Dass meine Absage aber doch nicht mit meinem Alter zu tun habe, beharre ich, sondern mit meinem altmodischen Lebensstil.

Martin Ahrends, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.

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