Plädoyer gegen religiöse Intoleranz

Rezensiert von Rudolf Walther |
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird über die Zukunft der Religion debattiert, zumeist geht es dabei um die Zukunft des Islams. Dass aber auch andere Religionen für die Demokratie wie für die Autonomie des Einzelnen ein Problem darstellen, wird gerne ausgeblendet. Die beiden Philosophen Richard Rorty und Gianni Vattimo empfehlen in ihrem Buch "Die Zukunft der Religion" den Verzicht auf autoritative Wahrheitsansprüche.
Gut einen Monat nach den Attentaten vom 11. September 2001 erhielt Jürgen Habermas den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche konkurrierte Habermas nicht "um den schnellsten Schuss aus der Hüfte" bei der Interpretation der Ereignisse, sondern änderte sein vorgesehenes Thema ab und hielt eine nachdenkliche Rede über "Glauben und Wissen", das heißt "die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion."

Eine Hauptthese von Habermas lautete:

"Die Kehrseite der Religionsfreiheit ist tatsächlich eine Pazifizierung des weltanschaulichen Pluralismus, der ungleiche Folgelasten hatte. Bisher mutet ja der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden."

Habermas hielt dieser Einseitigkeit entgegen, dass auch die säkulare Seite sich öffnen müsse. Er forderte von beiden Seiten, die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen, denn ein gesellschaftliches Zusammenleben allein auf der Basis von Warentausch, Verträgen, Nutzenmaximierung und rational begründeten Entscheidungen verheiße keine Stabilität.

Die Rede erzeugte ein großes Echo, und seither steht das Thema "Religion" auf der Tagesordnung. "Die Zukunft der Religion" lautet auch der Titel eines Buches mit zwei Beiträgen von Richard Rorty und Gianni Vattimo sowie einer Diskussion zwischen dem amerikanischen und dem italienischen Philosophen. Beide beschäftigen sich mit der Religion, jedoch aus unterschiedlicher Perspektive.

Vattimo ist gläubiger Katholik, Sozialist und bekennt sich als Postmoderner zu dem, was er "schwaches Denken" nennt. Dieses distanziert sich von traditionellen, ewigen Wahrheitsansprüchen in der Philosophie und großen Theorien ebenso wie von theologischen Dogmen in der Religion, möchte jedoch an einer in ihren Ansprüchen gezähmten Religion festhalten.

Der Amerikaner Rorty dagegen ist ohne Religion aufgewachsen und versteht sich heute als "laizistischer Antiklerikaler", der Religionen toleriert, solange sie sich aus der Politik heraushalten und gleichsam privatisiert werden. Philosophisch steht Rorty dem amerikanischen Pragmatismus nahe, das heißt jener Denkschule, die philosophische Fragen im Horizont des Alltagslebens und in ihrer Bedeutung für das praktische Leben analysiert.

Beide Autoren diskutieren die Zukunft der Religion philosophisch-systematisch und im Hinblick auf die aktuelle Lage. Sympathischerweise bedienen sie sich jedoch nicht des Islams als Beispiel, wie das momentan meistens geschieht, so als ob nur der Islam und nicht alle Religionen für die Demokratie wie für die Autonomie des Einzelnen ein Problem darstellten.

Beide Autoren empfehlen den Religionen eine radikale Abrüstung, das heißt den Verzicht auf autoritative Wahrheitsansprüche, die immer auch Machtansprüche und damit freiheitsfeindlich sind. Vattimo sieht darin, dass Gott seinen Sohn Jesus Christus opfert und am Kreuz sterben lässt, einen Verzicht Gottes auf seine souveräne Allmacht und Autorität. Insofern stimmt er Friedrich Nietzsche darin zu, dass Gott tot ist. Alles liegt nun in der Hand der Menschen, die ihr Leben nach dem Vorbild von Jesus Christus leben sollen. Der so verstandene Tod Gottes bedeutet allerdings für Vattimo nicht, zum Nihilismus oder Atheismus überzulaufen. Mit der Selbstabdankung Gottes wird für ihn vielmehr der Blick frei auf die Botschaft der Bibel. Diese ist für ihn kein theologisches Dogma, sondern ein Appell zur Nächstenliebe. Bei Vattimo steht Christus weder für Wahrheit noch für Macht, sondern einzig und allein für Nächstenliebe.

Vattimo versteht diesen abgerüsteten Glauben als "Verweltlichung" - im Fachjargon – "nichtmetaphysische Religiosität" -, die er so erläutert:

"Die Religion ging immer mit einem Gefühl der Abhängigkeit einher, und für mich gilt das noch immer – denn wenn ich vom Gott der Bibel spreche, spreche ich von dem Gott, den ich nur durch die Bibel kenne und der kein Subjekt da draußen ist. (...) Ist dies zugleich eine Weise, Gott zu lieben? Ja, weil Liebe das Gefühl einer Abhängigkeit fernab einer Pathologie ist; man lehnt sich nicht gegen das Gefühl der Abhängigkeit auf, das man in Bezug auf geliebte Menschen empfindet."

Von ganz anderen Voraussetzungen her kommt Rorty zum gleichen Ergebnis. Er zitiert nicht nur zustimmend Paulus‘ Brief an die Korinther, wonach die Liebe alles verträgt, alles glaubt, alles hofft und alles duldet, sondern setzt seine Hoffnungen explizit auf des Gesetz der Liebe:

"Mein Gefühl für das Heilige, soweit ich eines habe, ist an die Hoffnung geknüpft, dass eines Tages, vielleicht schon in diesem oder im nächsten Jahrtausend, meine fernen Nachfahren in einer globalen Zivilisation leben werden, in der die Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist."

So wie Rorty gläubige Christen darum bittet, "religiös unmusikalische" Menschen nicht länger als vulgär abzustempeln, so entschieden kritisiert Vattimo die katholische Kirche. Er sieht diese auf dem Weg zu einer "dialogunfähigen Sekte", wenn sie Frauen weiterhin mit dem weder wissenschaftlich noch biblisch belastbaren Hinweis auf deren angeblich "natürliche Berufung" diskriminiere.

Wenn für Vattimo nur noch die Bibel und nicht der Glaube an die Auferstehung Christi oder die heilsgeschichtliche Offenbarung das Fundament des Glaubens bildet, wird die Bibelinterpretation zur zentralen Instanz für den Glauben und die Glaubenden. Jede Bibelinterpretation ist zurückgebunden an historisch-soziale Kontexte und an Personen, die die Interpretation vollziehen. Deshalb sind diese zeitgebunden wandelbar und nicht gesichert gegen Irrtümer. Darin sehen Rorty wie Vattimo keinen Makel, sondern eine Verwandtschaft der Kunst religiöser Textauslegung mit dem politischen Verfahren in einer Demokratie: auch diese ist wandlungsfähig und nicht geschützt vor Irrtümern.

Umsichtig und detailreich legen Rorty und Vattimo die philosophischen und theologischen Grundlagen frei, um den Ort der Religion heute und in der Zukunft zu bestimmen. Der fromme Sozialist und der antiklerikale Ironiker Arm in Arm gegen politische Reaktion und religiöse Intoleranz – das ist ein hübsche Pointe, aber auch eine etwas zu glatte.

Enttäuschend sind die Passagen, in denen es um aktuelle politisch-religiöse Konflikte geht. Auf Vattimos Frage, "was passiert, wenn wir an einen Ort kommen, wo man uns ablehnt, wie in einigen Teilen der islamischen Welt?", antwortet Rorty schroff:

"Europa steht nicht nur für Herrschaft. ... Es gibt auch noch die 'europäische zivilisatorische Mission'. Dieser Begriff ist durch das Verhalten der Kolonialmächte diskreditiert worden, aber vielleicht lässt er sich rehabilitieren. ... Mir erscheint die Vorstellung eines Dialogs mit dem Islam als gegenstandslos. Es gab im 18. Jahrhundert keinen Dialog zwischen Aufklärern und dem Vatikan, und es wird keinen zwischen Mullahs der islamischen Welt und dem demokratischen Westen geben."

Diese Absage an einen Dialog, bevor er überhaupt begonnen hat, kontrastiert eklatant mit Rortys Bekenntnis, "Philosophie als Philosophie des Gesprächs zu begreifen." Die Verbarrikadierung des Westens ist keine adäquate Reaktion auf die aktuelle Konfliktlage. Jürgen Habermas zeigte sich politisch entschieden sensibler, als er sagte:

"Religiöse Überlieferungen besitzen für moralische Intuitionen ... eine besondere Artikulationskraft. Dieses Potential macht die religiöse Rede bei entsprechenden politischen Fragen zu einem ernsthaften Kandidaten für mögliche Wahrheitsgehalte, die dann aus dem Vokabular einer bestimmten Religionsgemeinschaft in eine allgemein zugängliche Sprache übersetzt werden können. ... Diese Übersetzungsarbeit muss freilich als eine kooperative Aufgabe, an der sich auch nicht-religiöse Bürger beteiligen, verstanden werden, wenn die religiösen Mitbürger, die zur Teilnahme fähig und bereit sind, nicht auf asymmetrische Weise belastet werden sollen."

Statt sich an so verstandener gegenseitiger Übersetzungsarbeit zu beteiligen, mauert sich Rorty in alten Ressentiments und Überlegenheitsphantasien ein, während sich Vattimo ebenso abrupt wie diffus auf einen Sozialismus beruft, von dem er nur weiß, dass er auf dem Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft beruht. Derlei hätte man doch gerne etwas genauer.

Richard Rorty und Gianni Vattimo: Die Zukunft der Religion
Herausgegeben von Santiago Zabala.
Aus dem Amerikanischen von Michael Adrian
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006