Plädoyer gegen den Perfektionismus

Rezensiert von Gabriele Killert |
Manfred Osten untersucht in seinem Buch "Die Kunst, Fehler zu machen" das westliche Fehlerverständnis. Er zündet dabei - wie bereits in früheren Essays - wieder einmal ein Feuerwerk der Zitate. Anders als in anderen Texten greift er diesmal allerdings fast ausschließlich auf deutsche Dichter und Denker zurück, allen voran Goethe und Nietzsche.
Man muss verstehen, die Fehler zu begehen, die unser Charakter von uns verlangt.

Diese fröhliche Apologie der menschlichen Unvollkommenheit stammt von dem französischen Moralisten Nicolas de Chamfort und hätte ein treffendes Motto für Manfred Ostens neuen Essay abgeben können mit dem Titel "Die Kunst, Fehler zu machen" Osten zündet - wie in seinen früheren Essays - wieder ein Feuerwerk der Zitate, aber diesmal fast ausschließlich in den Landesfarben der deutschen Dichter und Denker, allen voran Goethe und Nietzsche. Weder Chamfort noch Montaigne oder andere französische Denker kommen als Referenzgrößen zu Wort. Vielleicht, weil Philosophie und Literatur im Kernland des Rationalismus unkritischer als andernorts der Ratio huldigen, die sich für Manfred Osten aller Vorteile zum Trotz durch einen Kardinalfehler disqualifiziert:

die Ungeduld. Sie ist offenbar eine Art neurologischer Schöpfungsdefekt mit weitreichender Bedeutung für alle Irrtümer und Fehler des Menschen.

Der Autor glaubt sich hierin mit Goethe und dessen Begriff des Veloziferischen einig, sprich: der teuflischen Übereilung. Theorien, so Goethe in "Maximen und Reflexionen"…

…sind gewöhnlich Übereilungen des ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern loswerden möchte.

Mit dieser Einsicht, so Manfred Osten, habe Goethe "bereits Erkenntnisse der modernen Hirnforschung antizipiert". Die Hirnforschung macht allerdings für die Vernachlässigung der Phänomene durch die Ratio nicht die Ungeduld verantwortlich, sondern die selektive Wahrnehmung, den "Mesokosmos" unseres eingeschränkten kognitiven Apparates. Unsere Sinnesorgane registrieren ja nur ein kleines Spektrum der uns umgebenden Signale, die Lücken ergänzen wir durch Konstruktionen. Wobei die evolutionshistorisch neuen Hirnrindenareale offenbar nicht mehr direkt an die Sinnesorgane gekoppelt sind, wie der Hirnforscher Wolf Singer meint.

Die in ihren Funktionen stark dezentral organisierten Hirnrindenereale greifen stattdessen vielmehr auf "Informationen" zurück, die bereits als gleichsam "abstrakte" Teilergebnisse in einzelnen Arealen der Hirnrinde zur Verfügung stehen... Das heißt, dass wir das Ganze als das Wahre nie in den Blick bekommen.

Oder, um es mit einem Aphorismus Nietzsches aus der "Fröhlichen Wissenschaft" zu sagen:

"Er ist ein Denker, das heißt, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen als sie sind." Nietzsche empfiehlt daher, vorsorglich überhaupt von der "Irrtümlichkeit" der erkannten Welt auszugehen.

Das Problematische der auf Abstraktion geeichten Ratio liegt in der "Enteignung der Sinne", dem Verlust von Primärerfahrung und damit der Gefahr, unter den komplexen Bedingungen der technologischen Evolution die möglichen Fehler unserer Handlungen -etwa im Bereich der Genmanipulation- nicht mehr abschätzen zu können. Andererseits hat sich die "dezentrale Strategie" unseres Gehirns als wesentlich effizienter erwiesen als die hierarchisch organisierten Entscheidungssysteme etwa in Politik und Wirtschaft. Das Fehler-und Irrtumsrisiko, so Osten, steigt in hierarchischen Systemen exponentiell mit zunehmender Komplexität. Manfred Osten empfiehlt daher Wolf Singer, der etwa im Hinblick auf die Globalisierung vorschlägt:

Von der Natur zu lernen und die Entscheidungssysteme in Politik und Wirtschaft an neuronalen Entscheidungsarchitekturen zu orientieren.

Die biologische Evolution wie auch die kulturelle lässt sich lesen als eine Geschichte hochproduktiver Fehler und Irrtümer. Manfred Osten führt eine ganze Reihe von Beispielen an von der langen Kindheit des Menschen, dem Laster der Unersättlichkeit unseres Egoismus, das der schottische Moralphilosoph Adam Smith in den Terminus des begründeten "Selbstinteresses" umdeutete, um daraus die zweifelhaften Tugenden unseres Wirtschaftssystems zu begründen,- bis zu den nützlichen Irrtümern der Religion und Moral, etwa dem Konstrukt der "Willensfreiheit", das sich als "wirkmächtige soziale Tatsache" bewährt hat.

Die "Kunst, Fehler zu machen" beginnt mit dem fröhlichen Eingeständnis der eigenen Fehlertauglichkeit. Womit wir wieder bei unserem Lieblingsmoralisten Chamfort wären. Manfred Osten aber ist natürlich - ca. 50 Zitate kann man mühelos zusammenzählen- bei seinem Hausgott Goethe - den er wie wohl kein zweiter hierzulande kennt und, so sagt man, über weite Strecken auswendig zitieren kann:

Kinderchen, ihr müsst lernen, mit Vergnügen irren sehen.

Wer sich seine eigenen Mängel und Fehler verzeihen kann, der, so hofft Osten mit Goethe, wird auch seinen Mitmenschen gegenüber toleranter sein. Manfred Ostens Essay über die Kunst, Fehler zu machen handelt über weite Strecken von der Kunst der Neurowissenschaften, im Hinblick auf Goethes enzyklopädische Menschenkenntnis eine einigermaßen passable Figur zu machen. Wenn es ein Fehler oder eine Schwäche ist, als ein notorischer Zitat-Nomade seine Gedanken auf fremden Weidegründen grasen zu lassen, dann hat Manfred Osten diese Kunst wieder einmal aufs Nobelste unter Beweis gestellt.


Manfred Osten: Die Kunst, Fehler zu machen
Bibliothek der Lebenskunst Suhrkamp 2006,
110 S.