Plädoyer für mehr Verlässlichkeit

Ralph Kunz im Gespräch mit Anne Francoise Weber |
"Am Anfang war das Wort" - das Motto zum Reformationsjubiläum 2017 in Deutschland könnte auch für die reformierte Kirche in der Schweiz gelten. Allerdings ist der Gottesdienst dort sehr viel freier gestaltet als der lutherische. Der Theologe Ralph Kunz setzt sich für behutsame Änderungen ein.
Anne Françoise Weber: Natürlich denkt man beim Reformationstag an den Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg am 31. Oktober 1517, auch wenn diese Tat historisch nicht ganz sicher bezeugt ist. Am Donnerstag hat die evangelische Kirche in Berlin die neue Dachmarken-Kampagne zum Reformationsjubiläum 2017 vorgestellt. Der Claim, wie es neudeutsch heißt, stammt aus dem Johannes-Evangelium: "Am Anfang war das Wort". Das wurde von der Werbeagentur Scholz & Friends in einer Installation aus Bücherregalen umgesetzt.

Am Anfang war das Wort – die Konzentration auf die Verkündigung gilt aber fast noch mehr für die reformierten Christen, die sich auf die Reformatoren Johannes Calvin und Huldrych Zwingli berufen. Auch für sie ist der Reformationstag bis heute wichtig. In der Schweiz, wo die überwältigende Mehrheit der Protestanten der reformierten Kirche angehört, wird immer der erste Sonntag nach dem Reformationstag als Reformationssonntag begangen. Das Wort, die Verkündigung, steht auch im sonntäglichen Gottesdienst der Reformierten im Zentrum. Es gibt keine Festlegungen der Liturgie in Form einer Agende, also eines Buches, das den Gottesdienstablauf und für jeden Sonntag die zugehörigen Bibeltexte, Wochenlied und Wochenspruch vorgibt.

Bei den Schweizer Reformierten findet sich nur im Gesangbuch ein Gerüst für den Gottesdienstablauf. Das lässt viel Raum für Ausgestaltung, aber auch für Unsicherheit. Dieser Tage erscheint zu diesem Thema ein Sammelband mit dem Titel "Reformierte Liturgik kontrovers". Ich habe vor der Sendung mit einem der Herausgeber, Ralph Kunz, gesprochen. Zunächst habe ich den Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich gefragt, wo denn die größten Kontroversen über den reformierten Gottesdienst liegen.

Ralph Kunz: Ich denke, dass die verschiedenen Kontroversen auch unterschieden werden müssen. Es gibt Kontroversen, die sich tatsächlich in Minne auflösen, wenn man genauer hinschaut, auch die Kontroversen zum Beispiel zwischen der politischen, seelsorgerischen Predigt oder auf die Frage, ob Frauen predigen dürfen – alle diese Dinge, die vor 50, 60 Jahren die Gemüter noch bewegten, sind heute eigentlich nichtig. Wenn Sie mich fragen, was heute die Reformierten bewegt, dann würde ich sagen, ob man wieder ein Bekenntnis einführen soll, ob der Gottesdienst wieder stärker liturgisch angebunden an eine Art Agende sein soll. Es gibt so Leute bei uns, die stärker nach alternativen Gottesdiensten fragen, es gibt eine Kontroverse zwischen der sogenannten Popular- und Hochkultur. Dort, würde ich sagen, sind die größten Gräben.

Weber: Jetzt fangen wir mal mit dieser Frage nach dem Bekenntnis an. Ist es also wirklich so, dass es kein festgelegtes Glaubensbekenntnis für die Reformierten in der Schweiz gibt? Kann da also jeder Text herhalten, den der Liturg oder die Liturgin jetzt gerade mal für passend hält?

Kunz: So schlimm ist es nicht, wir sind ja keine liturgische Bananenrepublik. Die Reformierten sind bekenntnisfrei und nicht bekenntnislos seit dem 19. Jahrhundert, und das hat natürlich ganz verschiedene Ursachen. Aber die Bekenntnisfreiheit bezieht sich zuerst einmal auf das, was in der lutherischen Kirche die Bekenntnisschriften heißt, und die gibt es so bei uns nicht, das hat zu tun mit der Französischen Revolution und allen anderen Faktoren, zum Beispiel der erfolgreichen liberalen Revolution im 19. Jahrhundert. Mit dem Gottesdienst hat das eigentlich wenig zu tun, und wir haben in unserem reformierten Gesangbuch tatsächlich mehrere Bekenntnisse, auch die klassischen: Das Nicänum, das Apostolikum, aber auch neuere von Jörg Zink. Und daran halten sich die meisten Kolleginnen und Kollegen.

Weber: Wie ist denn die Spannbreite so in der Praxis? Wenn ich jetzt in einen reformierten Gottesdienst in der Schweiz gehe, was kann mich da erwarten?

Kunz: Ja, es erwartet Sie natürlich hoffentlich ein geistreicher Gottesdienst mit einer gehaltvollen Predigt und mit einer Kirchenmusikerin oder einem Kirchenmusiker, der darauf auch eintreten kann, eine singende, betende Gemeinde, im Idealfall, und vielleicht erwartet Sie auch ein langweiliger, öder, nüchterner, festlich etwas trockener Gottesdienst, in den Sie nicht wieder kommen. Mit anderen Worten, es ist vielleicht gar nicht unähnlich dem, was sie auch in einer süddeutschen oder norddeutschen Gottesdienst-Stadt erleben können.

Weber: Das wollte ich gerade sagen, das klingt mir gar nicht so anders. Trotzdem würde ich gerne noch mal auf diese Frage der Musik eingehen: Also von Martin Luther ist bekannt, dass er wichtige Kirchenlieder geschrieben hat, die evangelische Kirche in Deutschland fängt mit dem Reformationstag jetzt ein neues Themenjahr an, das heißt "Reformation und Musik", für Calvin und Zwingli war das mit der Musik nicht so einfach. Warum?

Kunz: Ja, das ist vielleicht auch ein böses Gerücht. Zwingli ist einfach zu jung gestorben. Er ist ja auf dem Schlachtfeld gestorben, und das heißt, er hatte noch gar keine Chance, den lutherischen Choral richtig kennenzulernen und schätzen zu lernen. Und …

Weber: Aber er kannte andere Musik, die er nicht mochte, oder?

Kunz: Ja, natürlich. Er kannte die Musik, die damals gespielt und gesungen wurde, und das nannte er "das verlönet und lateinisch Gebätt und Gemurmel", und dagegen hatte er allerdings etwas. Das schien ihm erstens zu teuer – Sie merken den Schweizer – und zweitens war es auch nicht das, was die Andacht reizt und das, was den Glauben weckt. Das waren lateinische, zerdehnte Gesänge, die von bezahlten Chorknaben gesungen wurden, und gegen diesen Gesang hatte er allerdings etwas. Ich glaube, Zwingli wäre ziemlich sicher dann wie Calvin auch auf den Gemeindegesang zurückgekommen und hätte diesen unterstützt.

Weber: Und heute ist das also in einem reformierten Gottesdienst, hat die Musik genau so einen Platz wie in einem lutherischen Gottesdienst?

Kunz: Natürlich, also Ihre Frage erinnert mich ein bisschen an Ricola: "Wer hat’s erfunden?" Also wir haben ja auch eine reformierte Psalter-Tradition. Das heißt, das Singen ist in den reformierten Kirchen unendlich wichtig, also man singt die Psalmen oder eben den Psalter, und man hat ziemlich früh, schon Ende 16. Jahrhundert in Zürich den sogenannten Lobwasser-Psalter gedruckt und selbstverständlich auch die lutherischen Choraltraditionen aufgenommen.

Weber: Sie haben vorhin auch erwähnt, dass es eine Frage nach Hochkultur und Popularkultur gibt. Das gibt es in Deutschland genau so, denke ich. Ein wichtiger Punkt ist aber die Frage nach Schriftsprache oder Dialekt, der sich doch in der Schweiz wahrscheinlich noch mal stärker stellt. Was sind da die kontroversen Positionen?

Kunz: Ja, jetzt fragen Sie nach den Abgründen der helvetischen Diglossie. Wir haben ja in der Schweiz das Alemannisch, aber im Unterschied zum Bayrischen oder Schwäbischen ist bei uns der Dialekt nicht nur die gesprochene Sprache, sondern es ist auch die gefühlte Sprache, es ist die kulturelle Sprache, die Sprache des Herzens. Das heißt …

Weber: Das würde jetzt aber kein Schwabe und kein Bayer akzeptieren, dass das bei ihnen nicht gefühlt ist!

Kunz: Ja, ich bin noch nicht fertig, ich bin noch nicht fertig: Wir haben eine andere Mundarttradition, deshalb nennt man das Diglossie, die Schweizer sprechen auch ein Schweizerdeutsch oder ein Standortdeutsch, aber sie sprechen es miserabel, und vor allem haben sie immer das Gefühl von förmlich oder von Schule – es ist das offizielle, offiziöse Deutsch. Und kein Mensch würde in einem solchen Deutsch an einer Familienfeier sprechen, da spricht man eben Mundart. Und jetzt können Sie sich ausrechnen, für viele Leute ist der Gottesdienst etwas wie eine Familienfeier. Da spricht man eben Mundart. Und andere aber sagen, genau das müssen wir lernen in der Standardsprache, mündlich zu sprechen. Das gehört zu uns. Und da geht die Kluft durch.

Weber: Ist dahinter auch ein unterschiedliches Gottesbild? Ist das einmal der nahe, familiäre Gott und das andere Mal der weit entfernte Gott, dem man sich möglichst differenziert und distanziert nähern muss?

Kunz: Ich würde nicht so weit gehen. Es gibt da diese Debatte auch, zum Beispiel wenn man nach Südamerika geht und das spanische Dios dann übersetzt in ein indianisches Wort und dann merkt, dass sind zwei verschiedene Götter. So weit würde ich mit unserem Herrgott nicht gehen, aber Tatsache ist, dass wir in der Mundart eigentlich keine religiöse Sprache haben, sondern man könnte fast sagen, wie Jesus direkt in Gleichnissen, in Bildern sprechen. Und sobald es theologisch wird, wird es Standarddeutsch. Und da könnte man sagen, so einen Unterschied von einer alternativen oder von einer Schultheologie zu Frömmigkeit gibt es da schon, der sich auch sprachlich manifestiert.

Weber: Sie selbst halten Rundfunkpredigten – Standardsprache oder Mundart?

Kunz: Selbstverständlich Standardsprache, denn es gibt ja auch das Gebot der Höflichkeit. Paulus würde sagen: Also hört auf mit der Glossolalie. Ihr habt ja schließlich Leute, die nicht Mundart verstehen und nicht Mundart sprechen. Und das ist auch ein starkes Argument, dass wir in unseren Gottesdiensten nicht nur Mundart-Dialekt sprechen.

Weber: In Ihrem Buch findet sich der Satz – nicht von Ihnen, sondern von einer Autorin –: "Der reformierte Gottesdienst hat an Profil verloren. Jede Pfarrerin erfindet ihn neu und investiert dafür unendlich viel Zeit und Kraft". Heißt das, es braucht im Grunde auch einfach ganz normale Routine und Ritual in einer Kirche, allein schon um den Arbeitsaufwand irgendwie in Grenzen zu halten?

Kunz: Na ja, also zuerst würde ich mal die Aussage in Zweifel stellen: Der reformierte Gottesdienst hatte noch nie ein Profil, wenn man denn so will. Und dann würde ich zweitens sagen, dass Routine tödlich ist und Repetieren langweilig, aber das Wiederholen einer gespeicherten Erinnerung aus dem Schatz des Herzens, also das Auswendigsprechen, dass das den Geist erneuert und auch den Glauben weckt. Das heißt, die Liturgie, das ist zutiefst eine Wiederholung, und das wissen auch die Reformierten. Das Profil zeigt sich aber nicht in den festen Gebeten oder in der Agende oder in der festgefügten Form, sondern es zeigt sich in der Wiederholung der Herzenssprache, und das sind zwei verschiedene Dinge.

Weber: Und wo wird die Herzenssprache wiederholt?

Kunz: Die Herzenssprache wird wiederholt im Rhythmus des Betens, in der Schrittfolge der Liturgie, und deshalb ist der Schweizer reformierte Gottesdienst auch nicht einfach eine Agende oder eine Struktur.

Weber: Sie selbst plädieren aber ja doch dafür eine Predigt-, Text-, und Leseordnung einzuführen. Also so ein bisschen suspekt scheint ihnen dieses Ungeordnete, Freie doch zu sein, oder?

Kunz: Also nein, nein. Die Unordnung finde ich ganz in Ordnung. Aber es geht mir eigentlich nicht um Ordnung, sondern es geht um ganz pragmatische Dinge, zum Beispiel, dass die Kirchenmusikerinnen und die Theologen und Theologinnen zusammenarbeiten, und dass sie eine gewisse Verlässlichkeit haben, welcher Text dran ist oder dran sein kann. Also es geht ja darum, dass man das empfiehlt und nicht befiehlt. Und Sie kennen ja den Witz: Am Samstagabend ist noch Licht im Pfarrhaus, und das ist der Pfarrer, der die Predigt geschrieben hat und immer noch den passenden Bibeltext dazu sucht. Das heißt, wir haben eine sehr subjektive Tradition, wir liefern sozusagen das der Beliebigkeit aus, und das kann es ja nicht sein. Also ganz pragmatisch, aber nicht, um Ordnung zu machen, sondern um eine bessere Zusammenarbeit zu fördern.

Weber: Vielen Dank, Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich. Der von Ihnen, Andreas Marti und David Plüss herausgegebene Sammelband trägt den Titel "Reformierte Liturgik kontrovers" und ist soeben beim Theologischen Verlag Zürich erschienen, umfasst 394 Seiten und kostet 44,60 Euro.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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