Plädoyer für eine menschliche und bezahlbare Medizin

29.08.2010
Zwei-Klassen-Medizin, Überalterung, Kostenexplosion. Unser Gesundheitssystem steckt in einer tiefen Krise. Das liegt daran, dass es in Wahrheit ein Krankheitssystem ist, meint der Wissenschaftler Klaus Michael Mayer-Habich.
Zwei-Klassen-Medizin, Überalterung, Kostenexplosion. Unser Gesundheitssystem steckt in einer tiefen Krise. Das liegt daran, dass es in Wahrheit ein Krankheitssystem ist, meint der Wissenschaftler Klaus Michael Mayer-Abich in seinem neuen Werk "Was es bedeutet, gesund zu sein. Philosophie der Medizin".

In fünf Kapiteln entwirft er das Bild einer dem Machbarkeitswahn verfallenen Medizin und der Fehlinterpretation von Krankheit als mechanischem Defekt. Dabei lautet sein Credo, dass es keine richtigen Antworten auf falsche Fragen gibt. Eine Blinddarmentfernung kann technisch perfekt durchgeführt sein – wenn sie unnötig ist, weil etwas ganz anderes dahinter steckt, ist trotzdem nichts gewonnen. Seelisches Leid lässt sich meist nicht körperlich behandeln.

Gesundheit und Krankheit sind bei Meyer-Abich immer "Charaktere des Mitseins"; das heißt, ein Mensch ist nicht nur als Individuum, sondern auch innerhalb seiner sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zu betrachten. Wenn es dort irgendwo nicht mehr "passt", wird der Mensch krank. Dieser psychosomatische Ansatz steht im Gegensatz zu der immer noch populären Trennung von Körper und Geist, der auf Descartes zurückgeht. Für Meyer-Abich ist dieser Dualimus der Sündenfall der Medizin und das wichtigste zu überwindende Hindernis zu einem neuen Verständnis dessen, was der Mensch für sein Wohlbefinden wahrhaftig bedarf.

Im Verlauf des Buches widmet er sich den drei Horizonten des Mitseins – dem individuellen, gesellschaftlichen und natürlichen. Mit poetischer Ruhe und großer Sachkenntnis, untermalt von Beispielen aus Literatur und Philosophie, entwirft er ein Konzept von Gesundheit, dass er als "Selbst-Sein im Mitsein" beschreibt.

Der Mensch braucht Erfahrungen von Zugehörigkeit, sei es zu einer Gemeinschaft oder zum Ganzen der Schöpfung. Eine feindliche Atmosphäre zuhause kann ebenso krank machen wie Demütigungen am Arbeitsplatz, und mangelnder Kontakt zur Natur oder fehlendes Tageslicht haben mehr mit der menschlichen Befindlichkeit zu tun, als descart’sche Materialisten je zugestehen würden. Das Selbst-Sein betrifft ebenfalls alle drei Sphären – ein Leben, das als entfremdet und machtlos empfunden wird, führt zu allen möglichen Zivilisationskrankheiten. Fehlt ihm die Möglichkeit, seine eigene Existenz sinnvoll zu erleben, wird er krank. Immer noch sterben mehr Menschen an Einsamkeit als an Krebs.

Klaus Michael Meyer-Abich hat ein monumentales Werk verfasst, das den dringend benötigten philosophischen Rahmen für eine zukunftsweisende Gesundheitspolitik absteckt. Er beendet seine Ausführungen mit der Forderung nach Kostentransparenz, einem offenen Wettbewerb zwischen den Dienstleistungen und einer größeren Aufklärung sowie Eigenverantwortung der Bürger.

Sein Buch ist ein bewegendes Plädoyer für eine menschliche und bezahlbare Medizin und einen grundlegend ganzheitlichen Gesundheitsbegriff. Denn nur im Gleichgewicht von Selbstbehauptung und Teilhabe gelingt es dem Einzelnen, ganz bei sich und somit gesund zu sein.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Klaus Michael Meyer-Abich: Was es bedeutet, gesund zu sein. Philosophie der Medizin
Hanser Verlag, München 2010
639 Seiten, 29,90 Euro