Plädoyer für Ehrlichkeit

24.09.2009
Wolfgang Engler konstatiert in seinem neuen Buch einen gesellschaftlichen Zustand, in dem das Lügen als wenig verwerflich angesehen wird. Wider besseres Wissen werden auf dem Markt Produkte angeboten, die kaum das Papier wert sind, auf denen sie als die allerbesten angepriesen werden.
Und in der Politik gilt es vor Wahlen nicht als ehrenrührig, Dinge zu versprechen, die nicht zu halten sind. Es wird öffentlich gelogen, dass sich die Balken biegen, aber es fehlt die nachhaltige gesellschaftliche Ächtung derer, die sich der Lüge als Prinzip bedienen. Öffentliche Beschämung kompensiert nicht das Schweigen des Rechtsstaates, wie Wolfgang Engler ausführt.

Diesem Zustand - die Finanzkrise von 2008 war ein entscheidender Grund, eine 1989 erschienene Publikation zu überarbeiten und umzuschreiben - hält der Soziologe Wolfgang Engler, der seit 2005 Leiter der Schauspielschule "Ernst Busch" in Berlin ist, in seinem Traktat die Aufrichtigkeit als moralischen Wert entgegen.

Aufrichtigkeit galt im Zeitalter der Aufklärung als eine Kardinaltugend. Es ist deshalb folgerichtig, dass Engler - ausgehend von den gesellschaftlichen Bedingungen der unmittelbaren Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit in der DDR - in seinem hoch aufschlussreichen historischen Exkurs untersucht, welchen Stellenwert die Bürger der Aufrichtigkeit im 18. Jahrhundert einräumten.

Als der dritte Stand im 18. Jahrhundert zu öffentlichem Ansehen gelangte, propagierte er moralisch-ethische Wertvorstellungen, die sich von denen des Adels unterschieden. Von den Lasterhaften wollten sich die Bürger durch ein tugendhaftes, aufrichtig geführtes Leben unterscheiden. Für den Rechtsgelehrten des 17. Jahrhunderts, Hugo Grotius, an den Engler erinnert, schließt der Aufrichtige, wenn er spricht, mit demjenigen einen "stillschweigenden Vertrag", an den er sich wendet.

"Wer spricht und dabei lügt, beraubt den anderen der 'Freiheit des Urteils‘, verweigert ihm die Möglichkeit, begründet zuzustimmen oder abzulehnen, und riskiert, nächstens selber derart vorgeführt zu werden."

Die Aufrichtigkeit ist demnach der Wahrheit verpflichtet und im Redeakt bewegt sich der Sprechende mit dem Angesprochenen nur dann auf Augenhöhe, wenn er ihn nicht anlügt. Für die Rede selbst bedeutet das, sich auf die Darstellung von Sachverhalten zu beschränken und auf Appell und Ausdruck weitestgehend zu verzichten, denn nur bedingt kann man den Worten trauen. Der Bürger macht nicht viel Worte, wogegen die Kunst des Schmeichelns zur Welt des Hofes gehört.

Wolfgang Engler hat ein spannendes, kurzweilig zu lesendes Buch geschrieben, in dem neben Ausführungen darüber, was gegenwärtig als moralisch opportun gilt, die Passagen erhellend sind, in denen historische Zusammenhänge vor dem Hintergrund eines gegenwärtigen Werteverfalls des öffentlichen Lebens entwickelt werden.

Die Aufrichtigkeit ging im 18. Jahrhundert einher mit dem aufrechten Gang. Der Bürger, der sich von den Fußfesseln befreite, zeigte auch in der Körperhaltung, für welche anderen Werte er einstand. Hingegen erkannte man die Sündhaften und "verhuschten Wesen", die "bürgerlichen Chamäleons" an ihrem "gebückten Gang."

Ums Erkennen und um die Ächtung derer, die sich mit stolzgeschwellter Brust in der Öffentlichkeit bewegen, ohne Anzeichen von Scham zu zeigen, geht es Engler in diesem Buch. Er weiß, das seine streitbare Schrift, die in der Tradition von Michel Foucault und Jürgen Habermas‘ "Strukturwandel der Öffentlichkeit" steht, moralisch verwerfliches Handeln nicht verhindern wird. Aber man weiß nach der Lektüre dieses Buches mehr um die kurzen Beine von Lügen, und kann, wenn man nicht gebeugt und auf krummen Wegen durchs Leben kommen will, versuchen, authentisch zu sein: "Ich selber schulde mir die Wahrheit", heißt es im Schlussteil des Buches.

Besprochen von Michael Opitz

Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus
Aufbau Verlag, Berlin 2009
214 Seiten, 19.95 Euro.