Plädoyer für die menschliche Willensfreiheit

19.04.2007
Ausgehend von Kant verteidigt Michael Pauen das Prinzip der Willensfreiheit gegenüber den Anfechtungen moderner Hirnforschung, die menschliches Handeln auf reine Neuronenströme reduziert.
"Was ist der Mensch"? - der Titel des Buches geht auf Kant zurück. "Das Feld der Philosophie lässt sich auf folgende Fragen bringen: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? - Was ist der Mensch?", so hatte Kant es formuliert und den Menschen zum "Bürger zweier Welten" erklärt. Der Mensch, so Kant, ist einerseits Naturwesen. Als solches untersteht er den Gesetzen der Natur und entwickelt natürliche Bedürfnisse. In dieser Sache unterscheidet der Mensch sich nicht vom Tier.

Aber der Mensch ist auch ein vernunftbegabtes Wesen, und darin unterscheidet er sich wohl vom Tier. Das Privileg des Menschen ist die Freiheit: er kann - bei aller Bestimmtheit durch äußere Umstände und natürliche Triebe - sein Leben nach eigenen Überzeugungen gestalten.

Pauen will zeigen, dass Kants Bestimmung des Menschen (als eines naturbestimmten und gleichzeitig zu freier Handlung fähigen Wesens) nicht etwa als "veraltet" aufgegeben werden muss, sondern durchaus kompatibel ist mit den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung. Dieses Bemühen, Kants Begriff des Menschen hoch zu halten, ist mehr als nur die Aktion eines Kant-Verehrers, der möchte, dass sein "Meister" Recht behält. Auf Kants Bestimmung des Menschen gründet die gesamte bürgerliche Ethik inklusive der bürgerlichen Rechtssprechung.

Wenn tatsächlich nachgewiesen werden könnte, dass der Mensch keinen freien Willen besitzt, sondern Neuronen-Ströme im Gehirn ihn zu bestimmten Handlungen nötigen, dann könnte kein Menschen mehr für sein Handeln verantwortlich gemacht werden, genauso wenig wie eine Katze zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn sie einer Maus den Garaus macht. Das ist Naturtrieb.

Nun behaupten einige Neurobiologen tatsächlich, die Existenz des freien Willens sei eine Illusion. Denn es gibt Experimente von Hirnforschern, die zeigen, bevor uns die Entscheidung für eine bestimmte Handlung bewusst geworden ist, hat ein Neuronen-Strom im Gehirn diese Handlung schon ausgelöst. Wir handeln also nicht frei, sondern determiniert, und unser Denken liefert nachträglich eine Art Kommentar.

Was sagt nun Michael Pauen dazu? Er fragt sich erstmal: Was sind das eigentlich für Experimente, die diese Neurobiologen im Auge haben. Das Schlüssel-Experiment in dieser Sache fand vor mehr als 20 Jahren statt, durchgeführt von Benjamin Libet, einem amerikanischen Physiologen. Libet hatte mehrere Versuchspersonen gebeten, auf sein Kommando hin die rechte Hand zu bewegen. Was dabei im Hirn der Probanden passierte, wurde mit Computertomographen aufgezeichnet. Libet fand heraus, dass die für Motorik zuständige Region im Gehirn ein paar hundert Millisekunden früher aktiv wird als diejenige, die für das Denken zuständig ist. Ergo, die Probanden waren bereits dabei, den Arm zu heben, und dann fiel ihnen erst ein: "Aha, ich hebe gerade den Arm!"

Pauen kommentiert: Das mag so sein, aber die Probanden hatten vorher zugesagt, den Anordnungen von Libet zu folgen. Bei dieser Aktion war also keine echte Willensentscheidung gefordert, darum lief die Armbewegung quasi unbewusst und automatisch ab.

Pauen weist auch einschränkend darauf hin, dass in unserer Alltagsroutine wenige echte Willensentscheidungen vorkommen. Das Gros der Handlungen vollziehen wir gewohnheitsmäßig: unbewusst, ohne vorher nachzudenken. Dennoch gibt es genügend Situationen im Leben eines Menschen, wo echte Entscheidungen gefordert sind. Es fragt sich nun, ob ein Hirnforscher auch dem "freien Willen" bei der Arbeit zusehen kann.

Pauen illustriert das Ganze an einem Beispiel: Er bittet den Leser, sich vorzustellen, er wolle morgen von Berlin nach München fahren und habe die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: er könne per Bahn oder per Auto reisen. Vermutlich würde er dann Überlegungen anstellen, was für ihn günstiger ist. Nehmen wir weiter an, der Leser hätte in diesem Moment einen Hirnforscher in der Nähe, der seinen Kopf mit einem Computertomographen verkabelt. Dann würde er feststellen, dass der Bildschirm seine Überlegungen als heftige Neuronen-Aktion präsentiert. Vermutlich würde diese Neuronen-Aktion im Scheitellappen des assoziativen Cortex stattfinden, denn dort, so Pauen, vermutet man inzwischen, trifft ein Menschenhirn seine Entscheidungen.

Pauen kann seinem Leser plausibel machen: welche der beiden Möglichkeiten (Bahnfahrt oder Autofahrt) am Ende Wirklichkeit wird, ist noch immer das Ergebnis seiner Wahl. Und diese Wahl treffen nicht etwa ein paar Neuronen, die für Motorik zuständig sind. Diese Wahl trifft er selbst, sein gesamtes "Ich", nach Erwägung von Gründen und Gegengründen, unter Berücksichtigung objektiver Umstände und subjektiver Befindlichkeiten.

Alles in allem ein überzeugendes Buch mit starken Argumenten. Hier schärft ein Philosoph seine Begriffe an den Herausforderungen der modernen Hirnforschung. Die gute Nachricht für die bürgerliche Ethik: Kants Begriff der Freiheit ist nicht in Gefahr.

Rezensiert von Susanne Mack

Michael Pauen: Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes
Deutsche Verlagsanstalt. München 2007.
270 Seiten. 19.95 Euro.