Plädoyer für die Meinungsfreiheit

Von Claus Leggewie · 23.09.2010
Muslime sind dumm, Auschwitz hat nie stattgefunden, die Kanzlerin ist eine Zicke und der Klimawandel eine Erfindung. Das sind so Meinungen, die derzeit durch die Talkshows und Kolumnen geistern. Alles nur spaßig gemeint, behauptet Minister Rösler, wenn er als Komödiant danebengreift, alles missverstanden, rudert Thilo Sarrazin zurück, wenn ihm endlich einer Kontra gibt. Alles nicht so gemeint – ich red' ja nur, ich sag ja nix, hat Odön von Horvath diese haltlose Schwätzerei einmal treffend bezeichnet.
Es ist interessant, wofür derzeit alles Meinungsfreiheit reklamiert wird und wie damit Beleidigung und Volksverhetzung salonfähig werden, im Namen eines hehren Prinzips, das bei uns unter Artikel 5 im Grundgesetz niedergelegt ist.

Um nicht missverstanden zu werden: Obwohl ich die eben zitierten "Meinungen" nicht im Mindesten teile, werde auch ich alles dafür tun, dass man sie aussprechen und veröffentlichen kann. Das gilt nicht minder für gotteslästerliche Äußerungen, Harald Schmidts Polenwitze und den Großteil der Comedy im Fernsehen, bei der ich wirklich nicht weiß, was an Humor auf Kosten Anderer komisch sein soll. Doch als "Meinung" definierte das Bundesverfassungsgericht "die im Werturteil zum Ausdruck kommende eigene Stellungnahme des Redenden, durch die er auf andere wirken will" und ein Wesensmerkmal solcher Meinungen sei eben, dass sie sich "nicht als wahr oder unwahr erweisen" lassen. Das war ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der Meinung der Herrschenden.

Jedes Grundrecht wird bekanntlich missbraucht, wogegen dann nicht Zensur, Berufsverbot, Entlassung oder Parteiausschluss zum Einsatz gebracht werden sollten. Aber wie steht es um die Selbstdisziplin der Wohlmeinenden, die sich überlegen könnten, was sie als Nächstes meinen, und vor allem um das Arrangement, in dem ein Meinungsaustausch stattfindet? Streit sollte nicht auf Keulenschläge aus sein, sondern auf die faire und Erkenntnis fördernde Erörterung öffentlicher Angelegenheiten. In der angelsächsischen Kultur werden solche Rededuelle regelrecht eingeübt, und ihr Clou ist nicht, dass jemand auf der Strecke bleibt, sondern dass man eine fremde Meinung nach allen Regeln der Kunst ausficht, um am Argument des Gegners das eigene zu schärfen. Meinungen sind kein Selbstzweck und klar ist auch, dass es gute und schlechte Argumente gibt, zwischen denen man einen Unterschied machen kann.

Zwei aktuelle Formate begünstigen Missbrauch: die Talkshow und der Blog. Gut an ihnen ist, dass das Unterhaltungsformat Talkshow politische Fragen einem Publikum näher bringt, das sich für Politik normalerweise nicht interessiert und das Internetformat Weblog Äußerungen an den Medienmächtigen vorbei ermöglicht. Problematisch ist allerdings, dass viele Talkshows allein auf Krawall angelegt sind und Politik am Ende noch mehr verachtet wird. Wer auf Einschaltquoten aus ist, vermengt alle Meinungen zum Brei und heftet sie an eine Person oder an ein Gesicht.

Politische Blogs steigern oftmals diese Egozentrik, und die Kommentarfunktion erlaubt es meist anonym bleibenden Kiebitzen, ungeniert auf Minderheiten herumzuhacken, dämlichsten Vorurteilen freien Lauf zu lassen und andere Beiträger hemmungslos zu beleidigen. Wer verstehen will, warum Artikel 5 dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung die Schranken der allgemeinen Gesetze, namentlich das Recht der persönlichen Ehre gesetzt hat, findet in diesem Magma schlechten Stils und des Hasspredigertums Anschauungsbeispiele in Hülle und Fülle, was im Übrigen dazu führt, dass vernünftige Leute sich an dieser Sorte Meinungskampf nicht mehr beteiligen wollen. Der Antisemitismus, um einen Lieblingstopos von Volkes Stimme zu nennen, ist nach Jean Paul Sartre keine Meinung, er ist ein Verbrechen. Gleiches gilt für die gerade modische Hetze auf Muslime, die sich als Religionskritik nur tarnt, aber eine andere Variante von Menschenfeindlichkeit darstellt. Im Namen des hehren Prinzips der Meinungsfreiheit wird eben diese heute mit Füßen getreten.


Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaft, Claus Leggewie, geboren1950 in Wanne-Eickel, ist Professor für Politikwissenschaft, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und stellvertretender Direktor des Zentrums für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen. Leggewie ist seit 2008 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Er studierte Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris und promovierte bei Bassam Tibi über Frankreichs Kolonialpolitik in Algerien. Nach der Habilitation wurde er 1986 zum Professor an der Universität Göttingen ernannt und wechselte 1989 an die Universität in Gießen. Von 1995 bis 1997 lehrte Leggewie als erster Inhaber des Max-Weber-Chair am Center for European Studies an der New York University. 2000/2001 war er Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, 2006 Körber-Fellow am Institut für die Wissenschaften am Menschen, Wien. Leggewies Thema ist die "kollektive Identität postmoderner Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung". Seine Bücher handeln unter anderem vom "Islam im Westen" (1993), vom Internet (1999), von Amerika ("Amerikas Welt: Die USA in unseren Köpfen", 2000). 2005 erschien sein Buch (mit Erik Meyer) "Ein Ort, an den man gerne geht. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik 1989" und 2009 (mit Harald Welzer) "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten: Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie".
Claus Leggewie
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