Plädoyer für den Geist der radikalen Aufklärung

07.03.2011
Ideenhistorikers Philipp Blom baut einen Gegensatz zwischen den "radikalen Aufklärern" um Diderot, d'Alembert, Buffon und Grimm sowie Voltaire und Rousseau, die heute unser Bild von der Aufklärung zu Unrecht dominieren.
"Es gibt nichts Solides außer Essen, Trinken, Leben, Lieben und Schlafen", schreibt Denis Diderot in "D´Alemberts Traum". Diese "Freude am eigenen Leben" bildet neben dem Atheismus die Grundlage der "radikalen Aufklärung". So die These des Ideenhistorikers Philipp Blom in seinem neuen Buch über die "Bösen Philosophen".

Zu den "radikalen Aufklärern" zählt Blom die Clique von Freunden, die sich im Pariser Salon des Barons Holbach trafen und bei reichlichem Essen und Trinken "philosophierten". Schriftsteller, Denker und Forscher wie Diderot, d´Alembert, Buffon und Grimm. Den Vorsitz führte die faszinierend schöne Frau von Holbach. Gelegentlich störte der Eigenbrötler Jean-Jacques Rousseau. In dieser lockeren und heiteren Atmosphäre eines Pariser Salons entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts gleichsam gesprächsweise und nebenbei die Idee der "radikalen Aufklärung", meint Blom. Darunter versteht der 1970 geborene Blom die radikale Abwendung von Gott, sowie die radikale Zuwendung hin zum Leben "nach der Natur", hin zur Erforschung der Naturgesetze.

Das Ergebnis war die "Encyclopédie". Sie fußte auf einer Lebenseinstellung, die - nach Blom - Denis Diderot am deutlichsten formulierte: Trau keinem Gott, sondern nur dem, was du siehst, hörst, fühlst, empfindest, überprüfen kannst. Trau nur den Sinnen. Sinnlich im mehrfachen Sinn von Sinneseindruck und Faktum sowie von Sinnlichkeit und Leidenschaft. Auch im moralischen, bzw. außermoralischen Fastnachts-Sinn von "Meide den Kummer und meide den Schmerz, dann ist das Leben ein Scherz."

Als Gegenpol zu dieser Clique um Diderot und Holbach baut der Historiker Blom zwei Figuren auf, die bis heute unser Bild von der Aufklärung prägten und zu Unrecht dominierten: Voltaire und Rousseau. Voltaire sei nur ein Financier von Fürsten gewesen, ohne eigenes philosophisches Werk, der vor Angst um sein Geld Gott als moralische Schutzmacht vor Dieben gebraucht hätte. Und auch Rousseau betrieb nach Blom das Gegenteil von Aufklärung. Nämlich die Verklärung seines eigenen Egos. Ein Schmerzensmann, der es liebte, von seiner Angebeteten gezüchtigt zu werden. Rousseau gründete seine eigene, private Religion: Den Glauben an die Unschuld der Natur und an die Schuld der Gesellschaft, an das schlechte Gewissen.

Unsere heutige Mentalität sei nun von diesem Rousseau und anderen Ersatzreligionen beherrscht, nicht aber vom Geist der radikalen Aufklärung. Auch wir Heutigen würden – wie Rousseau – den eigenen Körper nicht lieben, sondern verachten und bestrafen. Heute heißt die Selbstkasteiung nicht mehr Fasten, sondern Diät. Heute heißt die Sünde Dickmacher oder Altern. Das schlechte Gewissen bleibt das alte, religiös infizierte. So Philipp Blom.

Polemisch mag das sein, philosophisch aber ist es nicht durchdacht. Wenn nur zählen würde, was konkret nachweisbar und sinnlich erfahrbar wäre, wäre es um unser Denken wie um unser Leben schlecht bestellt. Was aber daran böse sein soll, leuchtet nicht ein. Denn die radikalen Aufklärer suchten ein Leben jenseits von Gut und Böse, jenseits von moralisch-theologischen Kategorien. Die Sitten sind nicht wahr oder falsch, sie richten sich nach den Interessen und nach den Zeiten.

Besprochen von Ruthard Stäblein

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung
Hanser, München 2011
416 Seiten, 24,90 Euro