Placebo - ein Nichts mit großer Wirkung

Von Stephanie Kowalewski · 06.02.2011
Die Wissenschaft rätselt immer noch, wie ein Placebo genau funktioniert. Spektakuläre Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass eine Scheinoperation des Kniegelenks die gleiche Wirkung hat, wie eine tatsächliche Arthroskopie. Placebo ist ein uraltes und doch rätselhaftes Phänomen. Ein Nichts, das mitunter große Wirkung haben kann.
Das Wissen um den Placeboeffekt ist vermutlich so alt wie die Heilkunst selbst. So wusste schon der griechische Philosoph Platon, dass Heilung am ehesten möglich ist, wenn eine Arznei und der Glaube an ihre positive Wirkung zusammenkommen.

"Das Heilkraut ist ein ganz bestimmtes Blatt. Aber zur Arznei gehört auch ein Zauberspruch. Wen man den zugleich spricht, indem man das Blatt gebraucht, macht das Mittel ganz und gar gesund. Ohne den Spruch aber, ist das Blatt zu nichts nutz."

Der laut Platon notwendige Spruch soll die Wirkung des heilenden Blattes verstärken, ja - erst möglich machen. Dabei ist der Spruch wissenschaftlich betrachtet eine medizinisch wirklose Maßnahme, eine Scheinarznei sozusagen.

"Ein Placebo ist eine Scheinprozedur oder ein Scheinmedikament."

Sagt der Internist und Intensivmediziner Gustav Dobos. Er leitet die Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin in Essen-Mitte.

"Eine Scheinprozedur wäre zum Beispiel eine Laserbehandlung bei der keine eigentlichen Laserstrahlen ausgesendet werden, sondern nur ein leicht rotes Licht erscheint. Ein Scheinmedikament ist ein Medikament, das äußerlich genauso aussieht wie das richtige Medikament, aber keine wirksamen Substanzen enthält."

Dennoch wirkt das Scheinmedikament bei echten Krankheiten und lindert Symptome, betont der Psychologe Manfred Schedlowski. Er ist einer der führenden Placeboforscher und leitet an der Universität Duisburg-Essen das Institut für Medizinische Psychologie.

"Denken sie an die ganz vielen chronischen Erkrankungen, Diabetes Mellitus, Bluthochdruck, klassische Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn, also entzündliche Darmerkrankung beispielsweise, da heilen die Medikamente ja auch nicht, sondern alles was erreicht wird, ist eine Linderung der Symptomatik. Und in dem Bereich kann eben ein Placebo 20, 30, manchmal 50, manchmal sogar noch mehr Prozent der Wirkung des Medikamentes erzielen."

Ein Nichts, das Schmerzen lindert, Depressionen und das Zittern von Parkinsonpatienten mildert? Das passt nicht zu einer Medizin, die auf Wissenschaft und exakten Studien basiert. So wundert es nicht, dass Ärzte den Placebo-Effekt verhöhnen, seit er in der medizinischen Literatur auftauchte. Im "Hooper’s Medical Dictionary" aus dem Jahre 1811 wurde das Phänomen so beschrieben:

"Placebo: ein Beiwort für jegliche Medizin, die man mehr einsetzt, um dem Patienten gefällig zu sein, als ihm zu nutzen."

Eine Definition, die der amerikanische Militärarzt Henry Beecher, der während des Zweiten Weltkrieges ein Feldlazarett führte, eindrücklich widerlegte.
"In den Kriegwirren der ersten Tage ging das Morphium aus und er musste aber hunderte von kriegsverletzten Soldaten behandeln. Und er hat in seiner Verzweiflung dann diesen verletzten Soldaten dann Kochsalz injiziert ..."

... den Verwundeten aber gesagt, sie bekämen ein hoch wirksames Schmerzmittel verabreicht.

"Und zu seiner Verwunderung haben fast alle so von ihm behandelten Soldaten über eine Schmerzlinderung berichtet."

Beobachtungen, die Medizingeschichte geschrieben haben.
Doch die Kraft des "Nichts" kann sich auch ins Gegenteil umkehren. Aus dem Placebo wird ein Nocebo. Der Noceboeffekt gilt als der böse Bruder des Placeboeffektes. Er beschreibt, wie negative Erwartungen, schlechte Gedanken, Angst und Zweifel Symptome oder Krankheiten auslösen können.

So erging es einem 26-jährigen Amerikaner, der sich mit einer Packung Antidepressiva umbringen wollte. Er überlebt, musste jedoch auf der Intensivstation behandelt werden, sagt Gustav Dobos.

"Und es stellte sich heraus, dass dieser Mensch an einer placebokontrollierten Studie teilgenommen hat und hatte einfach die ganze Studienmedikation auf einmal geschluckt. Später stellte sich raus, dass er zur Placebogruppe gehörte. Er wurde darüber informiert, dass er in der Placebogruppe war, und hat sich wieder erholt."

Um den Noceboeffekt auszulösen, kann eine unachtsam gemachte, negative Aussage des Arztes ebenso reichen, wie den Beipackzettel von Medikamenten genau zu lesen. Auch eine schlechte Arzt-Patienten-Beziehung kann zum Scheitern einer Therapie führen oder die Gesundheit eines Menschen stark gefährden.

Doch was geschieht in unserem Körper, wenn reine Zuckerpillen oder simple Kochsalzlösungen eine ähnliche Wirkung haben wie Substanzen, die für Millionensummen in Pharmalaboren entwickelt wurden? Wie kann ein "Nichts" eine nachweisbare Wirkung erzielen? Der Intensivmediziner und Naturheilkundler Gustav Dobos zuckt die Schultern.

"Ja, das ist ganz schwierig zu erklären. Manche sprechen von Selbstheilung, aber vermutlich hängt es mit zwei Effekten zusammen: mit der Erwartungshaltung und einer Konditionierung."

Bei der Placeboforschung geht also auch um eines der größten Geheimnisse der menschlichen Natur: wie können Gedanken den Körper beeinflussen.

Dank modernster Technik ist es heute möglich, auf gestochen scharfen Bildern Prozesse im Gehirn zu verfolgen, sagt der Medizinhistoriker Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung.

"Ein weiterer Meilenstein in der Placeboforschung sind dann sicherlich die Bild gebenden Verfahren, die zeigen, dass unter Einsatz von Placebo etwas im Gehirn passiert, dass das nicht bloße Einbildung ist. Und das ist ganz wichtig, weil sie damit mit einem realen Phänomen etwas zu tun haben. Und die naturwissenschaftliche Medizin möchte es mit realen Phänomenen zu tun haben."

Erwartungen, Gedanken und Gefühle verändern also nachweislich die physiologischen Abläufe im Körper, betont auch der Essener Placeboforscher Manfred Schedlowski.

"Durch die Erwartungshaltung, ich bekomme jetzt ein schmerzlinderndes Medikament, werden in unterschiedlichen Arealen im Gehirn Mechanismen aktiviert, die zu einer vermehrten Ausschüttung des körpereigenen Morphiums führen. Und diese Ausschüttung im Gehirn führt dann tatsächlich zu dieser Schmerzlinderung."

Um zu beweisen, dass der Placeboeffekt Kranken auch durch die Konditionierung, also das unbewusste Lernen, helfen kann, führt Manfred Schedlowski ein spektakuläres Experiment durch.

"Zunächst bekommen sie mal hier die Tabletten. Glas Wasser dazu /trinkt/ Ah."

Der 25-Jährige völlig gesunde Tobias Schulte hat gerade eine Pille geschluckt, die normalerweise Menschen nach Organtransplantationen regelmäßig einnehmen müssen, damit ihr Körper das fremde Gewebe nicht abstößt. Ein wirksames Medikament, das aber bei längerer Einnahme erhebliche Nebenwirklungen hat.

Es kann aber auch sein, dass der Proband ein Placebo geschluckt hat. Die Chance stehen 50/50. Jedes Mal, nachdem er die Pille genommen hat, bekommt er von der Diplom-Biologin Antje Albring ein Glas mit einem grell-grünen Saft gereicht.

"Oh, das schmeckt aber seltsam./ An was erinnert sie das?/ schwer zu sagen. Nach Parfüm, aber nicht widerlich. Es schmeckt kaum wie ein Lebensmittel, ehrlich gesagt."

Das soll es auch gar nicht, denn die Teilnehmer der Studie sollen mit dem grünen Saft, der keinerlei Wirkstoff enthält, nichts Bekanntes assoziieren. So kann sich der ungewöhnliche Trank im Gehirn gedanklich alleine mit dem Medikament und dessen Wirkung verbinden. Letztlich soll der Proband unbewusst lernen, dass der grüne Saft die Wirkung des Medikaments auslöst, nämlich die transplantierten Organe nicht abzustoßen. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend, sagt Antje Albring.
"Also das Medikament bewirkt eigentlich, dass die Botenstoffe, die im Körper ausgeschüttet werden und sagen, hier ist was falsch, hier ist was körperfremd, dass die unterdrückt werden. Und ähnliche Effekte konnten wir durch den Einsatz von Placebo-Präparaten ebenfalls erzielen."

Manfred Schedlowski und sein Team hoffen nun, dass die Ergebnisse dieser Studie langfristig auch in die alltägliche Praxis einfließen werden.

"Und hier, denke ich, findet dieser Placebo seine berechtigte Anwendung auch, denn wenn ich tatsächlich über die Aktivierung der körpereigenen Apotheke einen Teil der Medikation einsparen kann, dann wäre ich ja schön dumm, wenn ich das verschenke."

Das sieht inzwischen auch die Schulmedizin so. In einer Stellungnahme vom Juli 2010 räumt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer dem Placeboeffekt einen wesentlichen Stellenwert ein.

"Da der Placeboeffekt bei nahezu jeder Behandlung auftreten kann, ist es absolut notwendig und dringlich, Ärzten bereits in der Ausbildung sowie in der Weiter- und Fortbildung Kenntnisse der Placeboforschung zu vermitteln, um Arzneimittelwirkungen zu maximieren, unerwünschte Wirkungen von Medikamenten zu verringern und Kosten im Gesundheitswesen zu sparen."

Der Medizinhistoriker Robert Jütte war federführend an der Stellungsnahme beteilig.

"Alleine sich verlassen auf Studienergebnisse reicht nicht aus, weil in der Praxis kann ein gut geprüftes Medikament, also eine Therapie, von der wir wissen, dass sie in klinischen Studien überzeugt hat, schlecht abschneiden. Und deswegen muss der Placeboeffekt automatisch mit bedacht werden."

Nachdem der Placeboeffekt und sein böser Bruder Nocebo Jahrhunderte lang belächelt, ignoriert und verhöhnt wurden, finden sie nun allmählich ihren Platz in der modernen Medizin. Überfällig und notwendig, meint der Placeboforscher Manfred Schedlowski.

"Er ist robust, dieser Placeboeffekt, er ist nachhaltig. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass ein Placeboeffekt bis zu zehn Jahre anhalten kann sogar, aber er kann natürlich nicht alles. Er ist kein Wundermittel."