PISA

"Wir sortieren einfach viel zu früh"

Ulrike Kegler im Gespräch mit Ulrike Timm · 03.12.2013
"Eine gewisse Ermüdung" sei angesichts der vielen PISA-Studien der vergangenen Jahre eingetreten, sagt Ulrike Kegler, Direktorin der Montessori-Oberschule Potsdam. Sie beklagt, dass die Bildungszugehörigkeit immer noch sehr stark vom Elternhaus abhängt.
Ulrike Timm: In knapp zwei Stunden stehen sie im Mittelpunkt der Bildungswelt, die 15-Jährigen. Dann werden in Berlin die Ergebnisse der neuen PISA-Studie vorgestellt. Ebenfalls heute noch passiert das in Mexico-Stadt und in Tokio. PISA, das ist eine weltumspannende Angelegenheit unter dem Dach der OECD. Ob Schüler lesen können, wie viel sie von Texten tatsächlich verstehen und wie es um ihre mathematisch-naturwissenschaftlichen Fertigkeiten bestellt ist - darüber soll PISA Aufschluss geben.
Die erste Studie ihrer Art sorgte für den PISA-Schock, weil deutsche Schüler sich im unteren Mittelfeld bewegten und vor allem, weil in keinem Land die Abhängigkeit der Bildungsbiografie des Kindes so abhängig war vom Bildungshintergrund und vom Geldbeutel der Eltern. Das sorgte für viel Diskussion. Leistungsmäßig haben sich deutsche Schüler wohl voran gerobbt.
Die Durchlässigkeit des Bildungssystems ist aber auch nach zwölf Jahren des Herumlaborierens immer noch ein sehr deutsches Problem. Wie sie PISA einschätzt, das wollen wir eine Praktikerin fragen. Ulrike Kegler ist Direktorin der Montessori-Oberschule Potsdam, die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Schönen guten Morgen, Frau Kegler!
Ulrike Kegler: Guten Morgen!
Timm: Ist es eigentlich schon ein immerwährendes Ritual? PISA und dann ein vielstimmiges "Wir sind aber nicht gut genug"?
Kegler: Ja, es ist schon eine gewisse Ermüdung auch eingetreten nach so vielen Jahren. Am Anfang war es ja ein riesiger Schock und eine große Irritation. Und jetzt hat es sich ein wenig eingeschliffen.
"Das ist vielschichtig zu sehen"
Timm: Wo stehen wir denn heute, nach gut zwölf Jahren immerwährenden PISAisierens?
Kegler: Ja, ich finde, das ist vielschichtig zu sehen. Einerseits sind wir in unserem Bildungssystem weiterhin auf Ergebnisse orientiert, ausschließlich auf Ergebnisse. Und was die Veränderungen des Unterrichts betrifft, ist eigentlich beschämend wenig passiert. Dass nämlich die Prozesse in den Blick genommen werden. Und andererseits ist es aber so, dass man doch jetzt auch guckt, wie können wir das Lernen verbessern, wie können wir die Leistungen auch verbessern.
Denn das war ja schon damals wirklich schockierend. Bis dahin hieß es ja, Deutschland hat ein hervorragendes Bildungssystem, und wir sind gut. Und damit waren die Türen zu, und das war natürlich, hat erst mal unglaublichen Wind aufgewirbelt.
Timm: Und auch die Kritiker von PISA fanden diesen ersten Schock vor zwölf Jahren ja auch durchaus heilsam und aufschlussreich, dass die ja auch sehr ideologisch geführten Debatten ums Thema Schule den Schülern so wenig Rüstzeug mitgegeben hatten, dass erschütterte doch alle. Sind die danach entwickelten Bildungsstandards nicht, bei aller Kritik, auch ein Erfolg, zumindest für den Wissensstand der Schüler?
Kegler: Doch. Ich zum Beispiel fand es auch - im Land Brandenburg haben wir Abschlussprüfungen, zentrale Abschlussprüfungen in der zehnten Jahrgangsstufe, und die fand ich von Anfang an gut. Weil, da hatten sich Menschen viele Gedanken gemacht, was prüfen wir in Mathematik, was prüfen wir in Deutsch, und das hat also tatsächlich auch eine Rückwirkung gehabt auf die Qualität des Unterrichts oder auf das, was man mit Schülern sich überhaupt genauer anschauen sollte. Also, dass es Bildungsstandards gibt, das ist ja überhaupt nicht verkehrt.
Und wenn wir in das PISA-Vorzeigeland Finnland gucken, dort gibt es natürlich Bildungsstandards und dort gibt es das, was es in Deutschland eben leider nicht gibt und wo ich auch eine große Kritik hätte, nämlich ein Kerncurriculum, was 150 Seiten umfasst von der ersten bis zur zehnten Jahrgangsstufe. In Deutschland gab es eben auch Bewegungen, die genau ins Gegenteil geführt haben: noch weitere Aufsplitterung. Oder nehmen Sie mal diese ganze G8-Diskussion - Verkürzung der Schulzeit bei gleichen Lerninhalten und großen Testungen. Das sind alles Dinge, die man in diesem Kontext betrachten muss.
Timm: Nun haben Sie ja mit Ihrer Schule einen eigenen Mikrokosmos immer vor Augen. Sie haben uns erzählt, was Sie von Anfang an gut fanden, die Bildungsstandards, die PISA dann doch entwickelt hat. Was fanden Sie denn von Anfang an schlecht und versuchen, es im eigenen Rahmen auch besser zu machen?
"Wir gucken nicht genau hin, wie kommt es zu diesen Ergebnissen"
Kegler: Für mich ist ganz schlecht, dass man nur die Ergebnisse sich anschaut. PISA zeigt Ergebnisse auf, und wir gucken nicht genau hin, wie kommt es zu diesen Ergebnissen. Und da können wir nicht umhin zu sehen, dass das gegliederte Schulsystem natürlich sehr stark auch mit den Ergebnissen, die es dann hervorbringt, zu tun hat. Und was ja das Beschämende war, das haben Sie ja in Ihrer Anmoderation gesagt, dass in Deutschland eben Bildungszugehörigkeit sehr, sehr stark vom Elternhaus abhängt. Und das haben wir bis heute nicht verändert.
Und das ist das eigentliche Drama, und das hat natürlich auch was mit dem gegliederten Schulsystem zu tun und damit, dass man guckt, was für Ergebnisse liegen vor, aber nicht, wie kommen wir zu diesen Ergebnissen hin. Das ist ja auch mit den Zensuren, die wir Schülern geben. Wir geben einem Schüler eine Fünf in Mathematik, und was passiert dann? Dann müsste die Schule ja eigentlich aktiv werden. Aber dann …
Timm: Und wie sollte sie das dann tun?
Kegler: Also, ein Schulleiter aus einer Preisträgerschule hat mal gesagt, wenn bei mir ein Schüler eine Fünf in Mathematik hat, dann arbeite ich so lange mit dem, bis er mindestens eine Vier hat. Die Schule ist dafür verantwortlich, dass die Ergebnisse sich verbessern, aber dazu muss die Schule eine andere Sicht auf die Kinder entwickeln. Dazu muss die Schule ein anderes Konzept entwickeln, eben ein Konzept der Zugehörigkeit und nicht des Ausschlusses.
Timm: Würden Sie so weit zuspitzen, dass Sie vielleicht sagen, das Testbare wird uns bei PISA als Bildung verkauft?
Kegler: Ja, ich würde schon sagen - also für mich war bei PISA immer - ja, es ist gut zu wissen, wo man steht, aber dann geht es erst los. Dann, finde ich, muss man erst mal schauen, wieso ist es so und was haben wir denn anders gemacht oder auch nicht richtig gemacht, oder was könnten wir, wo, aus welchem Fundus könnten wir schöpfen, um zu besseren Ergebnissen zu kommen. Das ist wie mit den Schulvisitationen. Wir bekommen das Ergebnis einer professionell durchgeführten Visitation, aber dann steht jede Schule da und muss sich allein überlegen, was sie damit macht.
Timm: Heute werden weltweit die Ergebnisse der neuesten PISA-Studie vorgestellt. Wir sprechen vorab mit Ulrike Kegler, Schulleiterin der Montessori-Oberschule in Potsdam, über ihre Sicht auf Schultests.
Und, Frau Kegler, Sie merken schon, ich vermeide sowohl das Wort Bildungs- wie auch das Wort Wissenstests und sage Schultests. Und Sie meinen, na ja, es würden nur die Ergebnisse getestet und nicht die Prozesse. Nun kann man Prozesse nicht testen - da kann man eigentlich nur dran arbeiten.
Kegler: Na ja, wir müssten schon schauen, wieso lesen unsere Schüler schlecht. Oder wieso sind sie nur im Mittelfeld in Mathematik. Und das wäre ein Punkt für die Bildungsforschung, es wäre aber auch ein Punkt für alle, die sich mit Bildung beschäftigen, dass wir uns das genauer angucken. Was führt denn dazu, dass es so und so ist?
Ulrike Kegler leitet die Montessori-Oberschule in Potsdam.
Ulrike Kegler leitet die Montessori-Oberschule in Potsdam.© dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler
Und was führt dazu, dass es in anderen Ländern ganz anders ist. Und es gibt ja, schauen Sie, es gibt PISA-Sieger, die haben Schulsysteme, da würden wir alles tun, um so ein Schulsystem nicht zu haben. Also nehmen Sie mal China, die berühmten 68 Schulen in Schanghai, die getestet werden, oder Korea. Die sind vorbildlich in bestimmten Bereichen. Und das sind Schulsysteme und Trainings werden da veranstaltet, um die Kinder auf PISA vorzubereiten.
Timm: Und die fördern dann das stets abfragbare Wissen?
Kegler: Die fördern das Lernen, Auswendiglernen und so weiter. Und das ist - und in anderen Ländern werden Schulen getestet, die versuchen, auf ganz anderen Wegen mit ihren Kindern zu Ergebnissen zu kommen, oder mit ihren Jugendlichen. Und das kann man also wenig, da kann man wenig vergleichen.
"In Skandinavien ist es so, dass die Schüler in eine Schule gehen"
Timm: Die nordischen Länder, um dann doch mal einen Moment zu vergleichen, die kriegen immer beides hin: ein hohes Bildungsniveau und zugleich eine Schule, die Kindern ja emotional ein Stück Zuhause ist. Stecken die einfach mehr hinein an Geld, an Arbeit von Lehrern, an Lehrerstellen und vielleicht auch an gesellschaftlicher Anerkennung für Schulen? Oder wo ist der Trick?
Kegler: Auf jeden Fall. Und, ja, für mich ganz klar, wir haben uns das in Skandinavien angeschaut. Es gibt nicht die Angst, ausgeschlossen zu werden. Alle gehören dazu, und zwar eine lange Zeit. Und das ist ja das Verrückte, wenn wir die innerdeutschen PISA-Ergebnisse angucken, wo die Länder, die hochselektive Systeme haben, wie Bayern, Baden-Württemberg, die besten Ergebnisse hatten.
Dann muss man ja dahinter sehen, dass - es ist zwar perfide und auch in gewisser Weise paradox, aber da muss man sehen, dass dort eine hohe Zugehörigkeit in den einzelnen Schulformen gegeben ist.
Und wenn 70 Prozent der Schüler auf Mittelschulen oder auf Hauptschulen gehen, dann fühlen die sich ja nicht wie diejenigen, die eine kleine Gruppe am Rand der Gesellschaft bilden, sondern die gehören immer noch dazu. Und in Skandinavien ist es so, dass die Kinder in eine Schule gehen, und sie werden nicht ausgeschlossen. Und das ist in Deutschland nicht gelungen bisher.
Timm: Dazu kommt, das sagte mir mal ein finnischer Lehrer, wenn bei uns ein Kind nach der ersten Klasse, bei PISA prüft man die achte, noch nicht lesen kann, dann setzt man sich so lange mit diesem Kind zusammen, bis es das kann. Also da werden einfach auch viel mehr Mittel in die Schulen gesteckt.
Kegler: Es ist jetzt nicht nur eine Frage der Mittel. Natürlich müsste da noch mehr – es müssten kleinere Gruppen und Differenzierung – aber das Eigentliche ist die Haltung. Wollen wir, dass die Kinder und Jugendlichen, die hier an dieser Schule sind, dazugehören? Oder wollen wir gucken, wie wir sie sortieren? Und wir sortieren einfach viel zu früh. Ich erlebe hier in der Schule immer wieder, dass Jugendliche in den letzten zwei Schuljahren so eine enorme Entwicklung noch mal machen, und wir können nicht so früh die Kinder in verschiedene Systeme einsortieren.
Timm: Ulrike Kegler war das, Direktorin der Montessori-Oberschule in Potsdam. Ihr ist bei PISA immer ziemlich unwohl. Frau Kegler, ich danke Ihnen fürs Gespräch!
Kegler: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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