PISA fürs Volk

Von Burkhard Müller-Ullrich |
Demokratie ist, wenn alles für alle gilt. Prüfungen sind deswegen meist undemokratisch. Denn es wird ja nicht jeder geprüft. Eine Prüfung abzulegen, ist schon ein Schritt in die Besonderheit. Zumindest galt das früher. Nicht jeder hatte Abitur, nicht jeder einen Führerschein, ja selbst eine Gesellen- oder Meisterprüfung vor der Handwerkskammer galt als große Sache.
Das hat sich ein wenig geändert, denn man betrachtet das Prüfungswesen heutzutage nicht so sehr als Chance zum Aufsteigen und Weiterkommen wie als Demütigung und Bedrohung. Geprüft wird nämlich, um Mängel aufzudecken. Geprüft wird serien- und reihenweise, um im Chaos des Normenzerfalls irgendwelche Mindeststandards zu retten.

Die so genannten PISA-Studien demonstrieren das mit aller Deutlichkeit: sie sind eine Überwachungsmaßnahme, der die Annahme zugrunde liegt, dass an den Schulen irgendetwas schief geht. Diese generelle Kaputtheitsvermutung ist der Kern des modernen Prüfungswesens, und ein Bildungs-TÜV à la PISA funktioniert wie eine Rasterfahndung nach Defekten. Kein Wunder, dass diejenigen, die nicht geprüft werden, so große Töne spucken. Prüfungen dienen unter anderem dazu, dass man sich besser fühlt, wenn man nicht zu den Prüflingen gehört.

Das jedoch ist undemokratisch. Daher liegt der Gedanke nahe, ein volksweites PISA zu veranstalten, einen allgemeinen Bildungstest, bei dem nicht immer bloß die Schüler dem internationalen Dümmer-und-klüger-Vergleich unterworfen werden, sondern auch die restliche Bevölkerung. Genau das hat die OECD offenbar vor. In drei Jahren, so heißt es, könne die erste Runde stattfinden. Auf die dann losbrechende Beknirschungsdebatte freuen wir uns jetzt schon.

Dass Deutschland insgesamt dümmer wird, ahnen wir seit längerem. Letztes Jahr sind 145.000 hauptsächlich junge, hauptsächlich hochqualifizierte Arbeitskräfte ausgewandert – die höchste Zahl seit 1954. Die Zuwanderung heller Köpfe verläuft dagegen äußerst schleppend: selbst in den besten Zeiten Schröderscher Green-Card-Euphorie kamen nicht mehr als 2300 Interessenten pro Jahr, jetzt sind es gerade mal 800, und Bundesarbeitsminister Müntefering hat die geplanten Erleichterungen beim Zuzug ausländischer Fachkräfte und Akademiker kürzlich wieder verworfen.

Dahinter steckt sicherlich System! Denn die Blöden lassen sich bekanntlich viel leichter regieren; also hinaus mit den Klugen und dann rasch die Türe zugemacht, damit keine Neuen mehr hereinkommen – nach Deutschland, ins Märchenland der Ideen. Wenn unsere Regierung aber nicht ganz so zynisch denkt, dann sollte sie statt Zuzugserleichterungen besser Wegzugserschwerungen erwägen. Es wäre doch gelacht, wenn die Behörden statt bloß den Ausländern nicht auch den eigenen Leuten bürokratische Knüppel zwischen die Beine werfen könnten! So sollte man den Hochqualifizierten vorsorglich die Pässe abnehmen, und gerade in Deutschland hat man mit Bau und Pflege eines hübschen Mäuerchens doch einige Erfahrung.

Im Zusammenhang mit den vielen phantastischen Vorschlägen zur Regulierung der Migrantenströme hat die Bildungsexpertin auf dem Bundeskanzlerinnensessel unlängst gefordert, dass künftig alle Kinder, ausländische wie deutsche, vor der Einschulung erst eine Sprachprüfung ablegen sollen. Abgesehen davon, dass es überhaupt wünschenswert wäre, die Sprache mehr ins Zentrum des Multikulti-Diskurses zu rücken, denn natürlich kann ohne Sprachbeherrschung keine Form von Integration gelingen, gefällt uns Merkels Idee ganz besonders, weil sie nach Gerechtigkeit klingt. Es wohnt ihr eine Tendenz zur demokratischen Generalisierung inne, die nahtlos zu den OECD-Plänen der totalen Ver PISA-isierung passt.

Auch wir dachten wir schon manches Mal daran, das ganze deutsche Volk regelmäßigen Sprachtests zu unterziehen, und dann diejenigen, die durchgefallen sind, am Ende ihres nächsten Urlaubs gar nicht wieder ins Land zu lassen. Wir wären aber auch zufrieden, wenn das nur schon mal an den beiden uns liebsten Bevölkerungsgruppen vorexerziert würde: den Politikern und den Journalisten.

Doch ein flächendeckender Bildungs-TÜV könnte auch ein wesentlicher Beitrag zur Bleiberechtsdebatte sein. Man muss die Leute ja nicht nur an den Ein- und Ausgängen des Landes kontrollieren, wenn die Möglichkeit besteht, ihre Kopfqualität immer wieder zwischendurch zu messen. Dann heißt das populäre Quiz nicht mehr: "Wer wird Millionär?", sondern einfach: "Wer wird weiterhin geduldet?"

Sollte dieses Volks- PISA in Deutschland allerdings so ausgehen wie das Schul-PISA, dann müssen wir der peinlichen Frage näher treten, was aus unseren hinausgeworfenen Landsleuten eigentlich werden soll. Oder anders gesagt: Wer nimmt die vielen dummen Deutschen auf?

Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.
Burkhard Müller-Ullrich
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