Picasso und nackte Frauen am Meer

Von Jochen Stöckmann · 08.03.2008
Die Seele von Picasso wollte er entdecken und für immer aufs Negativ brennen. Nackte Frauen in der Brandung und die Pflanzenwelt seiner südfranzösischen Heimat waren andere große Leidenschaften des Fotografen Lucien Clergue. Eine Ausstellung in Münster bietet nun eine große Retrospektive seines Werks.
Picasso gibt es gleich im Dutzend, aber immer wieder anders: Wenn Lucien Clergue den Künstlerfreund fotografierte, achtete er besonders auf die Hände, hob die Ausdruckskraft kleiner Gesten hervor. Picasso mit verschränkten Armen, die Zigarette zwischen den Fingern, lässig im Bademantel oder gegen den Kaminsims gelehnt, schließlich als alter Mann im Profil mit geradezu klassischen Zügen.

Lucien Clergue: "Für meine Kollegen hat Picasso oft den Clown gemacht, für "Life" oder "Paris Match". Ich hab ihn genommen, wie er war. Und einmal saßen mir gegenüber Picasso, Coco Chanel und Jean Cocteau – das Trio des Jahrhunderts, aber ich hab sie nicht fotografiert, wollte sie nicht stören. Meine Fotos zeigen die Seele, den Menschen Picasso – nicht den Star einer Epoche."

Begonnen hat diese Fotografen-Karriere im Süden Frankreichs, dort, wo vor Picasso bereits van Gogh sich inspirieren ließ. Lucien Clergue hat Pflanzen der Provence als kalligraphische Zeichen aufs Papier gezaubert, zum Verwechseln ähnlich den spontanen Pinselhieben der Tachisten. Stierkämpfe verwandeln sich in seinen Schwarzweiß-Impressionen zum Duell pechschwarzer Silhouetten mit der grazilen Figur von Toreros. Auf der Tribüne immer wieder Picasso, begeistert und mit großen Kinderaugen.

Diesen Blick hat auch Clergue sich bewahrt. Ob er nun mit der Kamera durch die mittelalterlichen Gassen von Arles streift oder sich unter das fahrende Volk der Gitanes mischt, stets gilt seine ganze Aufmerksamkeit dem Motiv, der grafischen Umsetzung, der Ideallinie. Ein Motto, das er auch als Gründer der mittlerweile renommierten "Rencontres de la Photographie" in seiner Heimatstadt Arles beherzigte:

"Ich habe die Fototreffen vor fast 40 Jahren gegründet, damals kannte man die Fotografen nicht - sie blieben hinter ihren Kameras."

Aber auch vor der Kamera wahrte Lucien Clergue die Anonymität, wenn es etwa um die "Grands Nus" ging, seine Aktfotografien. Das sind zumeist Frauenkörper ohne Köpfe, es fehlen bekannte Gesichter oder aufreizende Accessoires wie etwa Lackstiefel oder gar die Peitsche. Weder Prominenz noch Provokation oder Pornographie, kein Vergleich mit Helmut Newton, Bettina Rheims oder Jean-Loup Sieff. Dafür aber Individuen, Skulpturen geradezu, Körperlandschaften. Zumeist liegen diese Frauen am Meer, die Blöße mehr hervorgehoben denn bedeckt vom Schaum der Brandung, von symbolischen Wasserschleiern:

"Das ist meine Art, grafische, ja plastische Sätze zu komponieren – bestehend aus Zeichen, die eins mit dem anderen verknüpfen. Ich bin mediterran, also habe ich meine Aktmodelle am Strand aufgenommen. An einem Ort, wie ihn Ansel Adams, Edward Weston, Imogen Cunningham kennen. Aber die US-Fotoklassiker haben diese Verbindung von menschlichem Körper und Natur nie gesehen. "

Und was sieht Lucien Clergue, der Südfranzose, in New York? Die Scherenschnitte seines Landsmannes Henri Matisse – als Schaumkronen im Brunnen vor dem Seagram Building. Auch Paris hat er nur als Spiegelung aufgenommen, diesmal war es der Brunnen vor dem Grand Palais. Für spektakuläre Szenen opferte dieser Fotograf nicht einen Blick:

"Ich bin immer am Rande des journalistischen Gewerbes geblieben, habe natürlich auch Porträts von Picasso publiziert oder Fotos von Stierkämpfen, dafür gab es sogar einen Preis. Aber das war die Ausnahme. Ich habe mich stets als Künstler begriffen – und war der erste Fotograf in Frankreich, der seine Abzüge numeriert, in limitierter Auflage verkauft hat."

Um sich als Fotograf auf dem Kunstmarkt zu behaupten, hat Clergue sich öfter mal etwas Neues einfallen lassen. In Münster wird das mit den Doppelbelichtungen deutlich: Großformatige Farbbilder, auf denen der virtuose Spieler mit der Kamera sich dem kalkulierten Zufall ausliefert. Über Aufnahmen des Stierkampfs legen sich Fotos berühmter Gemälde von Cranach oder Caravaggio – und wie beim Russischen Roulette fügt sich auf dem Abzug manchmal zusammen, was Lucien Clergue eigentlich gerne mit der Filmkamera hätte einfangen wollen:

"Ich wäre gerne Filmemacher geworden. Für Hollywood habe ich einen Film über Picasso gedreht - und das hat mich wahnsinnig gemacht: Dieses Kino war achtzig Prozent Geldbeschaffung, zehn Prozent Kreativität. Also doch lieber Fotografie, da spare ich beim Rauchen, kann damit das Filmmaterial bezahlen - und machen was ich will. Aber mit dem Film hätte ich viel zusammenbringen können, insbesondere im Dialog mit der Musik. "

Also bleibt es bei zwei Dimensionen, beim gerahmten Einzelbild. Aber mit diesen Oberflächen erzielt der Fotograf überraschende Tiefenwirkung: Leider nur im reich bebilderten Katalog sind die jüngsten Arbeiten Clergues zu bestaunen, Bildkompositionen mit Spuren im Sand, aufgespürt in der Camargue. Geheimnisvolle Figuren, magische Zeichen und mystische Signale, Fragmente einer im Rausch entstandenen Land-Art, die alle Genre-Grenzen der Fotografie überschreitet:

"Das möchte ich heute zeigen, eine Ausstellung nur über den Sand. Aber - ich weiß nicht warum - alle wollen nur die Nackten und Picasso. Dabei habe ich ganz andere Sachen zu bieten. Und darüber hat schon Roland Barthes geschrieben, das sei Geomantie, die Kunst, aus Linien im Sand vorherzusagen."

Service: Die Ausstellung "Lucien Clergue - Magie und Mythos" ist vom 7. März bis zum 11. Mai 2008 im Graphikmuseum Pablo Picasso Münster zu sehen.