Philosophischer Wochenkommentar

Kosmisch spekuliert

Die Erde im Weltall, aufgenommen am 26.7.1971
Die Erde im Weltall, aufgenommen am 26.7.1971 © picture-alliance / dpa / NASA
Von Andrea Roedig  · 07.02.2016
Kaum hat Pluto seinen Status als Planet verloren, verdächtigen Forscher einen anderen Himmelskörper, ein Planet zu sein. Bewegt sich die Astro-Physik mit ihren kosmischen Rechenspielen auf die Metaphysik zu?
Der neue Planet, der jetzt im Orbit astrophysikalischer Erkenntnis aufgetaucht ist, habe zehn mal so viel Masse wie die Erde. Und er braucht wohl bis zu 20.000 Jahre, um die Sonne einmal zu umrunden, jedenfalls mutmaßen das die Forscher. Gesehen haben sie den Giganten natürlich noch nicht, aber sie haben ihn berechnet: sie haben aus den eigenartigen Umlaufbahnen einiger Zwergplaneten im äußeren Sonnensystem auf seine Existenz geschlossen.
Diese kosmischen Rechenspiele rufen eine nicht ganz so schmeichelhafte Episode aus der Philosophiegeschichte ins Gedächtnis, die mit der Habilitationsschrift des großen Georg Friedrich Wilhelm Hegel zu tun hat. Hegel hatte im Jahr 1801 in Jena – unter Zeitdruck muss man gerechterweise gestehen – eine Arbeit mit dem Titel "Über die Planetenbahnen" vorgelegt. Hierin argumentiert er unter Rückgriff auf Platons Schrift Timaios und gegen Newtons Physik, dass es zwischen Mars und Jupiter keinen weiteren Himmelskörper geben könne, auch wenn man emsig danach suche. Dummerweise war aber kurz zuvor gerade Ceres entdeckt worden, ein Planetoid, der genau im besagten Raum zwischen Mars und Jupiter siedelt. Dieser peinliche faux pas ging als "Hegelsche Planetenmisere" in die Annalen ein und war ein gefundenes Fressen für bösartige Kritiker, etwa für Karl Popper, der Hegel einen "logischen Hexenmeister" nannte: "Für einen ... wie ihn war es ein Kinderspiel, mit Hilfe seiner zauberkräftigen Dialektik wirkliche, physische Kaninchen aus rein metaphysischen Zylinderhüten herauszuholen", heißt es in Poppers Streit-Schrift "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde."
Todesblasen, weiße Zwerge und schwarze Löcher
Dass Poppers General-Kritik überzogen ist, und Hegels Argumentation in sich feiner war und auf einer Naturphilosophie ruhte, vermag die Sache etwas zu mildern. Es bleibt aber der hartnäckige Vorwurf an die so genannte spekulative Philosophie – vielleicht sogar an die Philosophie schlechthin – , dass sie sich um die Wirklichkeit nicht schere; dass sie sich um des gedanklichen Systems willen die Realität irgendwie zurechtbiege. Wogegen die Naturwissenschaften es mit Fakten zu tun hätten, mit messbaren Daten, mit experimentell nachweisbaren Theoremen – mit der Wirklichkeit eben.
Aber stimmt das so? Wenn man sich die Theorien vor allem der Astrophysik anschaut, die Spekulationen über Urknall, Higgs-Teilchen, kosmische Todesblasen, weiße Zwerge und schwarze Löcher, können einem da schon Zweifel kommen. Längst handelt es sich bei dem, was die Naturwissenschaften in mikro- und makrokosmischen Dimensionen erforschen, oft um bloße "theoretische Entitäten", um Modelle und Rechenoperationen. Wir befinden uns hier jedenfalls außerhalb des Bereichs dessen, was sich im herkömmlichen Sinn empirisch beobachten ließe.
Die Welt im Ganzen erklären
Ein bisschen ungerecht ist das schon. Keine Philosophie würde sich gegenwärtig trauen, auch nur annähernd große Thesen aufzustellen, wie sie etwa aus dem Bereich der Relativitätstheorie und Quantenmechanik kommen. Kein Philosoph und keine Philosophin würde es derzeit wagen, kosmische Systeme zu entwerfen, die Welt im Ganzen erklären zu wollen, oder die Notwendigkeit der Existenz von Planeten zu behaupten - allein schon aus der Angst heraus, für Phantasten gehalten zu werden. Selbst philosophische Gedankenexperimente wie die berühmten "Gehirne im Tank" bleiben moderat und beschränken sich aufs relativ überschaubare Gebiet des menschlichen Geistes.
Wer sind heute die Hexenmeister? Es sieht so aus, als habe sich im 20. und 21. Jahrhundert die Physik der großen Fragen angenommen, die ehemals als Metaphysik galten – also als jenseits der Physik. Die Naturwissenschaften geben jetzt die Antworten auf die Fragen nach Endlichkeit und Unendlichkeit des Kosmos, auf die Frage, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts. Haben sie mehr Mittel in der Hand, bessere Methoden und Argumente? Vielleicht. Die Wissenschaftscommunity und auch die breite Öffentlichkeit glaubt den Astrophysikern die großen Thesen jedenfalls eher als den Philosophen."
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