Philosophischer Wochenkommentar

Gegen den Kult des Loslassens

Zwei Frauen sitzen im Schatten auf einer Parkbank, nur ihre Silhouetten sind zu erkennen.
Die Dinge loslassen können: Laut Philosophen ein Teil der Gelassenheit. © dpa/picture alliance/Bernd Von Jutrczenka
Von Andrea Roedig · 03.04.2016
Loslassen-Können gilt als Tugend und wird in vielen Ratgebern gepriesen. Doch oft führe dieser Loslass-Kult nur zu einem "esoterisch verquarkten Diesseits", meint Andrea Roedig. Ohne starkes Verlangen gebe es weder Liebe noch Glauben noch politische Ideen.
Nur wenn Altes geht, kann Neues entstehen, lautet die Weisheit. Lass sie also fahren, die Wünsche, die dich hemmen, und ein Begehren, das sich nicht erfüllen wird.
Diese Ratschläge sind in ihrer praktischen Relevanz nicht zu bezweifeln und sie haben eine lange Vorgeschichte: Schon in den antiken Lehren der Stoa zum Beispiel dreht sich alles darum, Leidenschaften und mit ihnen Ängste zu mäßigen. Wir können den Gang der Welt nicht ändern, sondern nur uns selbst und unsere Haltung zu ihr, meint die Stoa. Auch in östlichen Weisheiten findet man – wenn auch spiritueller begründet – ähnliche Rezepte des Loslassens: Buddhistisch gesehen liegt alles Leiden im Anhaften, und das Elend werde daher erst aufhören, wenn wir aufhören, zu begehren.

Meister Eckhart, ein "Champion des Loslassens"

Im Rahmen der oft zitierten Merksätze zu mehr Gelassenheit fällt auch immer wieder der Name Meister Eckhart. Der deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts war sozusagen ein Champion des Loslassens. "Du sollst dich deines eigenen Willens entäußern", schreibt er immer wieder in seinen Predigten. Man solle so komplett gar nichts mehr wollen, dass man selbst an Gott nicht mehr denke.
Wenn man die Traktate Meister Eckharts aber wirklich liest, fällt eines auf: Sie sind so radikal, dass allen gegenwärtigen Prediger_innen des Loslassens die Spucke wegbleiben würde. Nach Eckhart sollen wir eben nicht nur alles aufgeben, sondern selbst zu einem Nichts werden, uns vollständig auflösen. "Unser ganzes wesenhaftes Sein liegt in nichts anderem begründet, als im Zunichtewerden", heißt es in Eckharts Reden der Unterweisung.

Zu seicht gedacht

Man mag dazu stehen, wie man will, aber genau die Unbedingtheit dieser Haltung entlarvt, was eigentlich suspekt ist an den Lehren des Loslassens von heute: Sie beziehen sich meist aufs persönliche Glück, gehen zu glatt auf und passen auch ziemlich gut in den Zeitgeist. Immer flexibel sollen wir sein und uns anpassen, uns wandeln, produktiv bleiben, uns selbst verwirklichen und möglichst auch weiter konsumieren. Natürlich: Wer einen neues I-Phone kaufen soll, muss das alte loslassen.
Im radikalen Meister Eckhart dagegen brennt ein anderes Feuer. Das Loslassen hat bei ihm keinen nur lebenspraktischen Hintergrund, etwa der Vermeidung von Übel oder der guten Lebensführung. Das alles interessiert ihn nicht. Ihn interessiert das Ewige, die "unio mystica", die Vereinigung mit Gott. Es ist ein hohes Ziel, das – anders und doch ähnlich: als Nirwana – auch den Buddhismus umtreibt. Mit einer zu seicht gedachten Lehre vom Loslassen landen wir dagegen allenfalls in einem esoterisch verquarkten Diesseits.

Die Pflicht zum Festhalten

Und noch etwas anderes wäre anzufügen: Meister Eckhart ist ein leidenschaftlicher Denker. Was er lehrt, unterscheidet sich von der sprichwörtlichen "stoischen Ruhe" und auch der "buddhistischen Gelassenheit". Denn das Christentum geht anders mit Leiden und Leidenschaften um. Es will sie nicht vermeiden – im Gegenteil, in seiner katholischen Variante zumindest schürt es sie noch. Und das ist gut so. Denn ohne das starke Verlangen nach etwas, das uns wertvoll erscheint, existierte keine Liebe, kein Glaube, keine politische Idee, keine Geschichte.
Es gibt sogar Wünsche und Ideale, die wir nicht loslassen dürfen, weil sie größer sind als wir selbst. Auch das ganz persönliche Begehren weist ja über sich hinaus. Hinter jedem Hadern mit Krankheit steht die Utopie der Unversehrtheit, hinter jedem Liebeskummer die Sehnsucht nach geglückter Verschmelzung, hinter jedem Neid der Wunsch nach Gerechtigkeit.
In einer sozusagen dialektischen Volte könnte man mit Meister Eckhart, dem Champion des Loslassens, auch ein Plädoyer für das Festhalten formulieren: Es ist zugleich ein gutes Recht, manchmal auch eine Pflicht, festhalten zu wollen.
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