Philosophischer Ratgeber

Rezensiert von Susanne Mack |
Der Philosoph Wilhelm Schmid präsentiert in seinem Buch "Die Kunst der Balance" Lebensweisheiten in kleine Geschichten verpackt. Schmid ermuntert dazu, das Gleichgewicht zwischen den Extremen zu halten und eine Haltung zum Leben einzunehmen. Von anderen Lebensratgebern a la Carnegie unterscheidet er sich durch die Tiefe seines Denkens.
Balancieren ist ja eine Kunst, die man üben muss. Es geht im Wesentlichen darum, Haltung zu bewahren, "oben" zu bleiben, die Richtung zu behalten – und das in einer Lebenslage, wo man abstürzen kann, wo rechts und links der Abgrund lauert. Ob nun im Sportunterricht auf dem Schwebebalken oder auch auf einem Baumstamm über einer Schlucht: Es geht immer darum, sich nicht in die Tiefe ziehen zu lassen. Denn irgendwie hat die Tiefe, hat das Sich-Fallen-Lassen ja auch etwas Schauerlich–Anziehendes. Aber Vorsicht! Da lauert Gefahr, womöglich eine tödliche.

Wer gelassen, heiter und ohne allzu dicke Beulen durch sein Leben kommen will, muss balancieren lernen, meint Wilhelm Schmid. Balancieren ist ein Teil der Lebenskunst. Balance halten muss man zwischen verschiedenen Extremen. Zum Beispiel zwischen zuviel Angst und zuviel Mut: Ängste sind Hürden auf dem Weg unsres seelischen Wachstums, die müssen genommen werden, wir brauchen also Mut. Aber Mut ganz ohne Angst treibt uns zu tollkühnen Aktionen, die uns um Kopf und Kragen bringen.

Balancieren müssen wir auch zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig des Nachdenkens über unser Leben. Das erste ist der Fall des Philosophen: der kommt vor lauter Denken nicht mehr zum Leben. Wer dagegen zuwenig nachdenkt, sich weigert, Schlüsse zu ziehen aus seinen Erfahrungen, der ist verurteilt, die Fehler von gestern morgen zu wiederholen. Also: Maß halten und balancieren zwischen den Extremen – das ist Lebenskunst!

Bei den antiken Philosophen - denken wir an Sokrates, an Epikur, an Marc Aurel - stand die Lebenskunst hoch im Kurs. Sie war ein Teil der Ethik, genau genommen ihr Zentrum. Ethik, das Wort kommt vom griechischen "Ethos", "Ethos" meint "Haltung". In der Ethik geht es also um Fragen unserer Haltung - zu anderen Menschen, aber auch - und das hatte die akademische Philosophie in Deutschland lange vergessen – es geht auch um Fragen der Haltung zu uns selbst.

Die Philosophie im Nachkriegsdeutschland – das war in der Bundesrepublik nicht anders als in der DDR – hat sich bis zum Ende der Achtziger Jahre fast ausschließlich mit Gesellschaftstheorie beschäftigt. Seit zehn bis fünfzehn Jahren nun erlebt die Philosophie der Lebenskunst eine Renaissance. Wilhelm Schmid ist ein Pionier dieser Entwicklung.

Was unterscheidet eine "Philosophie der Lebenskunst" a la Wilhelm Schmid von der Ratgeber-Literatur a la Dale Carnegie "Sorge Dich nicht, lebe?"

Mit einem Satz gesagt: Der Unterschied liegt in der Tiefe des Denkens und der intellektuellen Redlichkeit. Wilhelm Schmid hat die Geschichte der abendländischen Philosophie im Blick. Und so einer lügt sich nicht einfach hinweg über die Abgründe des menschlichen Lebens. Positives Denken, das kann durchaus eine angemessene Haltung sein, muss aber nicht.

Und in manchen Lebenslagen ist "positives Denken" völlig daneben, zum Beispiel, wenn es darum geht, einen schwerkranken, geliebten Menschen bis zum Tod zu begleiten. "Alles wird gut", das ist für Wilhelm Schmid keine philosophische Haltung, sondern das fällt für ihn unter Verdrängungskunst. Eine philosophischen Haltung muss mit der Fülle des Lebens rechnen, auch mit den dunklen Seiten. Denen kann man einiges abgewinnen.

Philosophische Geschichten

Schmid hat eine Vielzahl akademischer Arbeiten geschrieben. Darunter eine zweibändige "Philosophie der Lebenskunst", mit ganz vielen Fußnoten, die bestimmt jeden Philosophieprofessor beglückt. Aber dieses Büchlein hier ist fußnotenfrei und völlig unakademisch.

Schmid erzählt uns Geschichten aus seinem eigenen Leben. Einhundert Stück, maximal zwei Seiten lang. Die Geschichten sind nach Jahreszeiten geordnet. Da gibt es Texte über Frühlingsgefühle, andere über Sommerfelder und Biergärten, anmutig-heiter, manchmal zum Brüllen komisch. Ein schöner Text heißt: "Rettet den Wurstsalat!" Ein Plädoyer für das "ehrliche bayrische Essen" gegen die Sushi–Welle, die uns gerade überrollt.

Aber es gibt auch herbstliche Gedanken. Motto: Wenn die Traurigkeit kommt. Und es gibt kühle Geschichten über weiße Winterwelten, mit einem Exkurs über den Sinn des Schlittenfahrens.

Was diese Geschichten so lesenswert macht, ist der besondere Blick eines Philosophen, der sein eigenes Leben denkend begleitet, immer um Haltung bemüht. Der herzhaft lachen kann über die Welt und nicht zuletzt über sich selbst. Der aber auch bitterlich weinen kann - und der über Dinge ins Staunen gerät, die der Normalbürger gern übersieht.

Das Buch ist jedem zu empfehlen, dem die Lebenskunst am Herzen liegt und der gewillt ist, die Kunst der Balance zu üben. Und erst mal drüber nachzudenken – gemeinsam mit dem Autor, der hat in dieser Kunst offensichtlich schon gute Fortschritte gemacht.

Das sind Geschichten für Zwischendurch, eine reicht etwa für eine Tasse Latte Macchiato oder auch für ein kühles Bier. Das Buch macht sich gut als Geschenk. Es ist klein aber fein und auch schön gestaltet. Ein meerblauer Einband, vorn drauf die Miniatur eines Gemäldes von Rene Magritte, diesem Meister des Surrealen: Da schwebt ein riesiger Stein, so ein Art Findling, in Gesellschaft einer weißen Wolke über einem Ozean. Eigentlich müsste dieser fette Brocken von Stein längst runter gekracht sein, aber offensichtlich übt auch er sich in der Kunst der Balance.

Wilhelm Schmid: Die Kunst der Balance. 100 Facetten der Lebenskunst.
Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2005.
174 S. 10 Euro