Philosophischer Rat für die Fastenzeit
Menschen sind sonderbare Wesen. Sie beschäftigen sich intensiv mit sich selbst, fragen sich, wer sie sind und was sie tun sollen. Sie hassen das Gefühl, von undurchsichtigen Impulsen gesteuert zu sein.
Kurzum: Menschen besitzen vermutlich die Fähigkeit, sich selbst ernst zu nehmen. Was aber heißt es genau, sich selbst ernst zu nehmen?
Was ist der Mensch? Die Frage gehört zu den ältesten Problemen über das sich die Philosophen seit Jahrtausenden den Kopf zerbrechen. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass es seit ein paar Jahrzehnten so aussieht, als hätte das ganze Gegrübel nicht viel Sinn gehabt, weil die wirklichen Antworten aus der Humanbiologie und Hirnforschung kommen.
Der Mensch ist, was seine Erbanlagen festlegen, sagen die Vertreter der einen, er ist, was in seinem Gehirn vorgeht, sagen die Vertreter der anderen Disziplin. Gegen die sogenannten harten Fakten naturwissenschaftlicher Evidenz wirkt der Hinweis auf nötige Begriffsdifferenzierung wie ein Rückzugsgefecht auf einem Terrain, das man längst verloren gegeben hat.
Mit Rückzugsgefechten hat der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt wenig im Sinn. In seiner kleinen Schrift "Sich selbst ernst nehmen" argumentiert er mit dem ganzen Selbstbewusstsein einer Wissenschaft, die auf die Frage, was der Mensch sei, immer noch die besten Antworten hat.
Für die besonders hierzulande heftig geführte Debatte, ob angesichts der Ergebnisse der Hirnforschung, der Mensch einen freien Willen besitze, hat Frankfurt nur ein schlagendes Argument übrig. Selbst wenn wir annehmen, dass unser Leben und Denken hundertprozentig kausal determiniert ist (also vollständig bestimmt von Genen, Hirnströmen und anderen physiologischen Prozessen), hat das keinen Einfluss auf die Freiheit unseres Willens.
Denn der freie Wille zeigt sich für Frankfurt nicht dadurch, dass wir irgendwelche geheimnisvollen Fähigkeiten besitzen, die uns im Gegensatz zu den Tieren, aus dem Naturzusammenhang heraustreten lassen. Im Gegenteil: die Freiheit menschlicher Tiere besteht darin, sich der Einschränkungen durch die Natur bewusst zu sein. Was uns (wahrscheinlich) von anderen Lebewesen unterscheidet, ist, dass wir uns zu unseren natürlichen Anlagen verhalten können.
Wer nun also während der Fastenzeit Lust auf Schwarzwälder Kirschtorte verspürt, macht - ob ihm das recht ist oder nicht - Bekanntschaft mit seinem Willen. Der Wunsch nach Süßem kann so ausgeprägt sein, dass er uns Tag und Nacht begleitet, trotzdem wollen wir ihm nicht nachgeben, weil für uns den Verzicht auf solche Genüsse vorgenommen haben.
Wahrscheinlich gibt es irgendwo eine genetische Disposition, die den Heißhunger besonders anfeuert, und irgendwelche Neuronen, die vor dem Schaufenster des Konditors heftig feuern. Und noch wahrscheinlicher wird irgendein Hirnforscher auf die Idee kommen, sich das unterm Magnet-Resonanz-Tomographen noch genauer anzuschauen.
Aus der Sicht des Philosophen sollte uns das nicht weiter beunruhigen. Denn frei im Bezug auf unsere Wünsche sind wir nicht, weil wir sie ignorieren, sondern weil wir sie ernst nehmen. Wir können dem Tortenwunsch durchaus widerstehen und unseren freien Willen im Verzicht verwirklichen. Oder wir genehmigen uns ein extragroßes Stück, weil wir unser Verlangen für einen noch wichtigeren Teil unserer Persönlichkeit halten als die Fastendisziplin. Unfrei werden wir erst, wenn uns Gewissensbisse quälen, wenn unser Wille mit unseren Wünschen in Konflikt gerät. Dieses recht unangenehme Problem, folgern wir mit Harry Frankfurt, können uns Hirnforscher und Konditoren nicht abnehmen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Harry G. Frankfurt: Sich selbst ernst nehmen
Übersetzt von Eva Engels
Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2007
145 Seiten, 18,80 Euro.
Was ist der Mensch? Die Frage gehört zu den ältesten Problemen über das sich die Philosophen seit Jahrtausenden den Kopf zerbrechen. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass es seit ein paar Jahrzehnten so aussieht, als hätte das ganze Gegrübel nicht viel Sinn gehabt, weil die wirklichen Antworten aus der Humanbiologie und Hirnforschung kommen.
Der Mensch ist, was seine Erbanlagen festlegen, sagen die Vertreter der einen, er ist, was in seinem Gehirn vorgeht, sagen die Vertreter der anderen Disziplin. Gegen die sogenannten harten Fakten naturwissenschaftlicher Evidenz wirkt der Hinweis auf nötige Begriffsdifferenzierung wie ein Rückzugsgefecht auf einem Terrain, das man längst verloren gegeben hat.
Mit Rückzugsgefechten hat der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt wenig im Sinn. In seiner kleinen Schrift "Sich selbst ernst nehmen" argumentiert er mit dem ganzen Selbstbewusstsein einer Wissenschaft, die auf die Frage, was der Mensch sei, immer noch die besten Antworten hat.
Für die besonders hierzulande heftig geführte Debatte, ob angesichts der Ergebnisse der Hirnforschung, der Mensch einen freien Willen besitze, hat Frankfurt nur ein schlagendes Argument übrig. Selbst wenn wir annehmen, dass unser Leben und Denken hundertprozentig kausal determiniert ist (also vollständig bestimmt von Genen, Hirnströmen und anderen physiologischen Prozessen), hat das keinen Einfluss auf die Freiheit unseres Willens.
Denn der freie Wille zeigt sich für Frankfurt nicht dadurch, dass wir irgendwelche geheimnisvollen Fähigkeiten besitzen, die uns im Gegensatz zu den Tieren, aus dem Naturzusammenhang heraustreten lassen. Im Gegenteil: die Freiheit menschlicher Tiere besteht darin, sich der Einschränkungen durch die Natur bewusst zu sein. Was uns (wahrscheinlich) von anderen Lebewesen unterscheidet, ist, dass wir uns zu unseren natürlichen Anlagen verhalten können.
Wer nun also während der Fastenzeit Lust auf Schwarzwälder Kirschtorte verspürt, macht - ob ihm das recht ist oder nicht - Bekanntschaft mit seinem Willen. Der Wunsch nach Süßem kann so ausgeprägt sein, dass er uns Tag und Nacht begleitet, trotzdem wollen wir ihm nicht nachgeben, weil für uns den Verzicht auf solche Genüsse vorgenommen haben.
Wahrscheinlich gibt es irgendwo eine genetische Disposition, die den Heißhunger besonders anfeuert, und irgendwelche Neuronen, die vor dem Schaufenster des Konditors heftig feuern. Und noch wahrscheinlicher wird irgendein Hirnforscher auf die Idee kommen, sich das unterm Magnet-Resonanz-Tomographen noch genauer anzuschauen.
Aus der Sicht des Philosophen sollte uns das nicht weiter beunruhigen. Denn frei im Bezug auf unsere Wünsche sind wir nicht, weil wir sie ignorieren, sondern weil wir sie ernst nehmen. Wir können dem Tortenwunsch durchaus widerstehen und unseren freien Willen im Verzicht verwirklichen. Oder wir genehmigen uns ein extragroßes Stück, weil wir unser Verlangen für einen noch wichtigeren Teil unserer Persönlichkeit halten als die Fastendisziplin. Unfrei werden wir erst, wenn uns Gewissensbisse quälen, wenn unser Wille mit unseren Wünschen in Konflikt gerät. Dieses recht unangenehme Problem, folgern wir mit Harry Frankfurt, können uns Hirnforscher und Konditoren nicht abnehmen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Harry G. Frankfurt: Sich selbst ernst nehmen
Übersetzt von Eva Engels
Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2007
145 Seiten, 18,80 Euro.