Philosophischer Kommentar zur Deutschen Einheit

Integration für alle statt Heimatschutz

05:02 Minuten
Menschen als Stützpfeiler tragen ein klassisches Gebäude.
Einbinden ohne Anzupassen: Demokratie ist ein Balanceakt © imago / Ikon Images
Von Arnd Pollmann · 30.09.2018
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Der 3. Oktober steht vor der Tür, aber von "Einheit" sind wir weiter entfernt denn je, so scheint es. Beschwörungen der Heimat helfen da nicht weiter - gegen die soziale Spaltung hilft nur eine richtig verstandene Integration, meint Arnd Pollmann.
Am 3. Oktober feiern wir die Deutsche Einheit. Echte Feierlaune will diesmal aber nicht aufkommen, zeigt sich das Land in diesem Herbst doch so gespalten wie noch nie. Und zwar keineswegs nur zwischen Ost und West. Auch sonst vertiefen sich bedrohlich die Gräben: zwischen Regierenden und Regierten, vermeintlichen Eliten und sogenannten Abgehängten, Einheimischen und neu dazu Gekommenen, zwischen Links und Rechts sowieso, aber auch zwischen Arm und Reich oder Stadt und Land. Wo man auch hinschaut, macht sich eine beunruhigende gesellschaftliche Desintegration bemerkbar.

Soziale Fliehkräfte

Diese Diagnose greift auf einen Begriff der Integration zurück, der viel weiter zu verstehen ist, als dies beim notorisch verengten Blick auf die Flüchtlingsdebatte der Fall ist. Das Integrationsproblem steht hier – allgemeiner – für die im Großkollektiv zu bewerkstelligende Aufgabe, die Gesellschaft als Ganze "zusammenzuhalten", weil in ihr stets auch vieles "auseinandertreibt". Ursprünglich meint der Integrationsbegriff die "Wiederherstellung einer versehrten Einheit". Integration ist folglich Reaktion auf zentrifugale Kräfte, die diese Einheit zu sprengen drohen. Oft wird jedoch übersehen, dass diese Einheit niemals eine monolithisch vorgefundene, sondern immer schon eine neuerlich erst herzustellende Einheit war und ist. In diesem Sinne ist Integration stets schon Reintegration. Zudem wird häufig ignoriert, dass desintegrierende Kräfte nicht bloß "von außen" kommen – so wie Einwanderer. Auch innere Fliehkräfte machen modernen Gesellschaften schwer zu schaffen: renitente Jugendliche, Kriminelle, Rechtsradikale in Chemnitz oder Dortmund, gewaltbereite Antifas in Hamburg oder Berlin, Anhänger von Pegida oder AfD, das "neue", sich ins Private zurückziehende Bürgertum, bettelarme Obdachlose ebenso wie superreiche Steuerflüchtlinge: All diese Menschen sind auf jeweils ihre Weise schlecht integriert!

Bedingt integrationswillig

Immanuel Kant würde hier noch einen Schritt weiter gehen. Er attestiert dem Menschen als solchem eine "ungesellige Geselligkeit". In jedem Individuum, so Kant, wirken zwei in etwa gleich starke, antagonistische Kräfte: ein soziales Bedürfnis nach "Vergemeinschaftung" und zugleich ein eher a-soziales nach "Vereinzelung". Folglich sind wir alle stets nur mehr oder weniger integriert. Und eine richtig verstandene Integration muss auf diese innere Zerrissenheit antworten: Sie soll nicht etwa eine der beiden antagonistischen Kräfte brechen, sondern beide austarieren. Einerseits müssen wir als widerspenstige Individuen so weit in die Gesellschaft eingegliedert werden, dass es zu keinen größeren sozialen Erosionen kommt. Andererseits ist im Dienste moderner Individualität zu vermeiden, dass Individuen so lange an die Mehrheitsgesellschaft "angepasst" werden, bis von Individualität gar keine Rede mehr sein kann.
Diese doppelt heikle Integrationsanforderung wird heute von all jenen einseitig fehlinterpretiert, die sich nach einem politischen Heimatschutz sehnen à la Horst Seehofer, der jede nonkonforme Individualität an "unsere" Weltbilder und Traditionen zwangsassimiliert. Ein derart einheitliches "Wir" existiert natürlich nicht. Ebenso irregeleitet sind aber auch vermeintlich superkritische Forderungen nach dem Motto "Desintegriert euch!". Auch sie missverstehen Integration als Herrschaftspraxis konformistischer Unterwerfung und verkennen so ihre Notwendigkeit als Grundlage jeder Vergesellschaftung.

Demokratisiert euch!

Was eine richtig verstandene Integration heute leisten müsste, daran erinnert uns nicht zuletzt der bevorstehende Feiertag: Jene Menschen, die 1989 in Ostdeutschland auf die Straße gingen, wollten ja nicht nur westlichen Wohlstand, sondern vor allem auch echte, gelebte Demokratie. Diese Forderung müsste auch die neue Seehofer-Kommission ins Zentrum rücken. Es ginge darum, sich nicht länger marginalisiert, sondern als Teil einer sich gemeinsam selbst regierenden Gemeinschaft zu fühlen – und doch zugleich auch ein mitunter "ungeselliges" Individuum sein zu dürfen. Dieser Weg vom gespaltenen Land zur geteilten Demokratie mutet derzeit weiter an denn je.
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