Philosophischer Kommentar zur Cancel-Culture-Debatte

Vom falschen Umgang mit Kritik

05:12 Minuten
Eine Person wird mit einem Fußtritt rausgeschmissen.
Wer muss die Party verlassen? Der Cancel-Culture-Debatte liegt ein Missverständnis zu Grunde: inhaltliche Kritik sollte nicht als Angriff auf Identität verstanden werden, meint David Lauer © imago images / Ikon Images
Von David Lauer · 23.08.2020
Audio herunterladen
In der „Cancel Culture“-Diskussion stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber. Das liegt daran, dass sie sich in einem entscheidenden Punkt ähneln, meint David Lauer. Sie begreifen Kritik als Angriff auf ihre Identität. Das muss nicht so sein.
Auf einer Party im Kreise von Ihresgleichen äußert ein Gast plötzlich weltanschauliche Auffassungen, die Sie und Ihresgleichen falsch und abstoßend finden. Wie reagieren Sie? (a) Sie erklären und begründen unmissverständlich ihren Widerspruch und fordern Ihr Gegenüber auf, sich zu Ihren Argumenten zu verhalten. (b) Sie haben keine Lust, einen abtörnenden Streit auf sich zu nehmen, und verlassen deshalb die Party. (c) Sie haben keine Lust, einen abtörnenden Streit auf sich zu nehmen, und verlangen deshalb von der Gastgeberin, dass der andere Gast die Party verlassen oder zumindest schweigen solle.
Wenn Sie die dritte Möglichkeit wählen, praktizieren Sie das, was man neuerdings polemisch als "Cancel Culture" bezeichnet. Glaubt man den Gegnern dieser Haltung, handelt es sich um den jüngsten Auswuchs einer ins Kraut schießenden Political Correctness, welche die Freiheit der Rede bedroht. Die der "Cancel Culture" Bezichtigten hingegen kontern, dass es in jeder Gesellschaft Grenzen des Sagbaren gebe, deren Übertretung mit sozialer Ächtung bestraft wird. Daran sei rein gar nichts neu. Es habe sich bloß das Blatt gewendet, wer hierzulande diese Grenzen festlegt, und hinter dem anschwellenden Gejammer, man dürfe ja nicht mehr laut sagen, was man denkt, verberge sich bloß die Wut derer, die es nicht ertragen, dass sie jetzt diejenigen sind, die die Party verlassen sollen.

Kritik ist nicht Angriff auf Identität

An dieser Replik ist etwas Wahres. In erster Linie zeigt sie aber, wie sehr sich die Parteien in diesem Konflikt ungewollt ähneln. Sie sitzen einem geteilten Missverständnis auf – einem Missverständnis, das niemand so eindringlich und präzise analysiert hat wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Beide Parteien begreifen Kritik an ihren Auffassungen oder Selbstverständnissen als Angriff auf ihre Identität – als Mangel an Anerkennung.
David Lauer steht für ein Porträt-Bild vor einem grauen Hintergrund.
Der Philosoph David Lauer© © Fotostudio Neukölln / Gunnar Bernskötter
Hegels Philosophie entfaltet jedoch den Gedanken, dass sich Anerkennung im vollen Sinne überhaupt nicht anders realisieren kann als in Praktiken der wechselseitig reflektierten Kritik. Kritik als solche ist Anerkennung. Denn indem ich mein Gegenüber zur Adressatin meiner Kritik mache, unterstelle ich ihr die Fähigkeit, sich mit dieser Kritik wiederum kritisch auseinanderzusetzen, sie aus freier Einsicht zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Hielte ich das nicht für möglich, wäre ja schon der Versuch einer Kritik sinnlos. Die formale Anerkennung des Gegenübers als selbstbestimmtes Subjekt liegt also im Akt der Kritik als solchem, wie hart die Kritik inhaltlich auch ausfallen mag.

Kritik ist Anerkennung der Person

Anerkannt wird dabei aber nicht ein Bestand inhaltlicher Meinungen, sondern die andere Person als eine, die ihre Meinungen aus eigener Einsicht zum Besseren zu bestimmen vermag. So kommt der Versuch, sie von einer besseren Auffassung zu überzeugen, nicht dem Versuch gleich, ihr ihre Identität wegzunehmen, sondern der Aufforderung, ihre Identität als selbstbestimmte Person gerade zu verwirklichen.
Diese Anerkennung im Konflikt kommt wiederum nur zum Tragen, wenn die Angesprochene sich selbst ebenfalls als eine versteht, die ihre Identität selbstkritisch und frei zu verantworten hat. Denn nur dann kann sie die an ihr geübte Kritik als Aufruf zum Freisein verstehen, statt als Einschränkung ihrer Freiheit. Nur in einer Praxis wechselseitiger kritischer Anerkennung können wir gemeinsam unsere jeweilige Freiheit verwirklichen.
Dass Anerkennung, Kritik, Selbstkritik und Freiheit sich nicht ausschließen, sondern im Gegenteil unauflöslich zusammengehören – das ist die Einsicht Hegels, von der große Segmente unserer gegenwärtigen politischen Debatten enorm profitieren könnten. Und die Debatte um "Cancel Culture" könnten wir dann möglicherweise – canceln.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Mehr zum Thema