Philosophischer Kommentar zu #MeToo & #MeTwo

Männliche Wehrhaftigkeit gegen weibliches Etepetete?

Das Bild zeigt, wie eine Frau von einem Mann vor Zeugen ins Gesicht geschlagen wird.
Die Gewalt gegen eine Frau in Paris sorgt für Diskussionen (Unkenntlichmachung durch die Redaktion). © Screenshot 30.7.2018 / Facebookseite Marie Laguerre, öffentlich zugänglich
Von Andrea Roedig · 05.08.2018
Gönnen wir uns eine verzärtelte "Luxus-Moral", wenn wir über Sexismus und Rassismus in unserem Alltag diskutieren – obwohl es Kriege, Klimawandel und Hunger in der Welt gibt? Andrea Roedig hält dieses Argument für einen miesen Trick der Mächtigen.
In Frankreich wurde in der vergangenen Woche über ein Video heftig diskutiert: Es zeigt die 22-jährige Marie Laguerre, die vor einem Pariser Café von einem Mann angesprochen, verfolgt und dann in aller Öffentlichkeit geohrfeigt wird. Der Mann, hat Laguerre erklärt, habe ihr im Vorbeigehen sexualisierte Geräusche zugeraunt, und als sie ihm dann mit "Halt die Klappe" gekontert habe, habe er sie verfolgt und angegriffen. Die Szene ist von der Sicherheitskamera des Cafés aufgezeichnet worden, Laguerre hat das Video bei Facebook veröffentlicht.
Die Empörung war groß, aber wie immer in solchen Fällen gibt es natürlich auch Stimmen, die sagen: Die Aufregung ist übertrieben, nun habt euch mal nicht so, das lenkt nur von den eigentlichen, viel wichtigeren Problemen ab. Ein berechtigter Einwand? Andrea Roedig beschäftigt sich mit dieser Frage im Philosophischen Wochenkommentar.

Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem der Kopf von Marie Laguerre zur Seite fliegt, dann folgen mehrere Sekunden, in denen sie nur dasteht, in ungläubigem Schreck. Das Video ist drastisch, der Vorfall empörend – keine Frage. Aber wie sehr müssen wir uns mit ihm beschäftigen, wenn doch gleichzeitig so viel Schlimmeres passiert auf der Welt? Schließlich wird in Syrien weiter getötet, herrscht Hunger im Südsudan, ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer, werden Frauen weltweit versklavt und bezahlen fürs Überleben mit ihren Körpern. Was ist dagegen der Sekundenbruchteil einer Ohrfeige – was dagegen subtiler Alltagssexismus oder Alltagsrassismus?

Pathos für Pipifax?

"Alles, was unter sieben Matratzen immer noch schmerzlich eine Erbse zu spüren vermag, wird bekanntlich gern für eine Prinzessin gehalten", schreibt der populäre Philosoph Robert Pfaller in seinem jüngsten Buch "Erwachsenensprache". Er hält die gegenwärtigen ethischen Debatten für eine Ideologie bestimmter "Eliten der Empfindlichkeit" die "großes Pathos aufbringen für kleinstes Pipifax". Gendergerechte Sprache, Diversity-Maßnahmen, Schutzbestimmungen – all das sei Pseudopolitik, die Energie verschwende und ablenke von den wirklich wichtigen globalen Problemen.
Robert Pfaller erhält Beifall von rechts wie links und ist nicht allein mit seiner Befürchtung, dass hier gerade eine "Hypermoral" (Alexander Grau) entstehe, die vor allem individuelle Befindlichkeiten von Minderheiten bedient und zu einer maßlosen Verzärtelung führt.

Missstände im Nahbereich

Etwas ist richtig und auch plausibel an dieser Polemik: Es geht darum, die Kirche im Dorf zu lassen. Es gibt unterschiedliche Grade der Gewalt, es gibt Aggressionen und Mikroaggressionen, es gibt großes Elend und kleineres. Es gibt subjektives Unglück und gesellschaftliche Katastrophen. Aber sie gegeneinander auszuspielen, ist ein mieser Trick: "Jetzt stellt euch nicht so an, ihr übertreibt, es gibt wichtigere Probleme" – dieses Argument ist ein beliebtes Mittel der Mächtigen, um nicht vor der eignen Haustür kehren, sprich sich mit Interessen der Schwächeren und den Missständen im Nahbereich beschäftigen zu müssen.
Die Angst vor Verzärtelung ist auch Teil eines Kulturkampfes, der gerade stattfindet, und er bedient sich alter Geschlechterklischees: Er setzt das männlich-kernige Modell der Wehrhaftigkeit gegen das weiblich konnotierte Etepetete der Political Correctness. Er setzt den männlich vernünftigen Universalismus gegen das Weibliche, das Kindliche, das irrational Individuelle.

Geborgenheit statt Härtetraining

Diese unbegründete Abwertung muss aufhören. Genauso wie das gegeneinander Ausspielen zweier angeblich getrennter Seiten: Dass es größeres Unglück gibt, heißt nicht, dass wir das Kleinere vernachlässigen können. Und dass wir zart werden für das Schicksal Einzelner, heißt nicht, dass wir an Wehrhaftigkeit verlieren. Die Grundlage für Resilienz, für Widerstandsfähigkeit, ist nicht das Härtetraining, sondern Geborgenheit, Anerkennung und Liebe – das lehrt die psychologische Forschung zur Genüge.
Jede gesellschaftliche Katastrophe ist gewoben aus dem Unglück Einzelner; jede gesellschaftliche Stärke aus der Achtung, dem Respekt gegenüber dem Individuum. Der Protest von Marie Laguerre, die Hashtags #Metoo gegen Sexismus oder #Metwo gegen Rassismus stärken uns mehr als jedes pseudobedeutsam säbelrasselnde Pipifax.
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