Philosophischer Kommentar zu Karl Jaspers

"Grenzsituation" - ein Begriff mit Schattenseite

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Der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969), einer der bedeutensten Vertreter des Existentialismus, in einer undatierten Aufnahme.
Karl Jaspers (1883 - 1969), einer der bedeutendsten Existenzphilosophen. Er prägte den Begriff "Grenzsituation" © picture alliance / dpa
Von Wolfram Eilenberger · 24.02.2019
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Der Begriff „Grenzsituation“ gehört heute zur Alltagssprache. Geprägt hat ihn der Philosoph Karl Jaspers vor hundert Jahren. Doch die Denkfigur könne ideologisch vereinnahmt werden, kommentiert Wolfram Eilenberger.
Zum Zwecke der tieferen Selbsterfahrung bis hart an die eigene Belastungsgrenze gehen: der kontemporäre Großstadtmensch tut dies vornehmlich freiwillig. Und zwar im Fitness-Studio.
Das war – natürlich – nicht immer so. Sonderlich nicht vor hundert Jahren, als Karl Jaspers mit dem Begriff der "Grenzsituation" eine der einflussreichsten Neuschöpfungen der jüngeren Philosophiegeschichte in Umlauf brachte. So geschehen in seiner 1919 erschienenen "Psychologie der Weltanschauungen", einem Überraschungsbestseller, dem es gelang, der tief traumatisierten Generation der Weltkriegsheimkehrer direkt aus der Seele zu sprechen.

Existenzielle Not - eine Chance zur Selbsterkenntnis

Jaspers vertrat darin insbesondere die These, gerade in Erfahrungen höchster existentieller Not und Kümmernis, unmittelbarer Lebensgefahr und Todesnähe, gerade in Situationen tiefen Scheiterns und fundamentaler Ausgesetztheit offenbare sich eine mutmaßliche Essenz unseres menschlichen Daseins, ja unseres jeweiligen Selbst.
Das Trauma wird zur Erweckungserfahrung. Die tiefe Erschütterung zur Authentizitätschance. Die erfahrene Todesnähe zur eigentlichen Vitalitätsquelle. Oder, in einem Jasper'schen Grundsatz: "Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe".
Der Philosoph Wolfram Eilenberger während einer Diskussionsveranstaltung auf der Leipziger Buchmesse
Geh an deine Grenzen, aber lass die Volksgemeinschaft aus dem Spiel: Wolfram Eilenberger© imago / Gerhard Leber
Und tatsächlich: Wer von uns spürte ihn nicht – etwa bei der Geburt des eigenen Kindes, über dem Atlantik in schwerster Flugturbulenz oder auch nur im Wartezimmer des Urologen – jenen grundmenschlichen Drang, ein wenig tiefer darüber nachzudenken, was es mit der eigenen Existenz sowie dem Platz derselben im größerem Ganzen in Wahrheit auf sich haben mag?

Die "Grenzsituation" als Topos rechter Revolutionsrhetorik

Vermittelt über so verschiedene Autoren wie Martin Heidegger und Albert Camus, Walter Benjamin oder Ernst Jünger, ist Jaspers Ideologem von der "Grenzsituation" mittlerweile so tief ins kulturelle Selbstverständnis eingedrungen, dass man leicht übersieht, welch dunklen Beigedanken es notwendig mit sich trägt. Vor allem in politischer Hinsicht. Vor allem, wenn man es nicht nur auf einzelne Existenzen, sondern ganze Volksgemeinschaften anwendet.
Die Idee der heilsamen, da mutmaßlich volksbefreienden "Grenzsituation" jedenfalls zieht sich wie ein roter Faden durch die rechte Revolutionsrhetorik der 20er- und 30er-Jahre – bis in unsere Gegenwart hinein. Besonders gern auch in der Variation des innig herbeigesehnten "Ausnahmezustandes".

"Grenz-Situation" 2015 – ein Geschenk für die Neue Rechte

Denn erst solche politischen Grenzsituationen, so die klassisch rechtsrevolutionäre Denkart, ermöglichen es einem Volke, den Ruf der eigenen, stets bedrohten Essenz wahrhaft zu vernehmen und sich in der Folge zum alltäglichen Kampf um die wahre Existenzform zusammenzuraufen. Weshalb derartige Sonderzustände drohenden "Kontrollverlustes" historisch nicht nur stets willkommen geheißen, sondern bei Bedarf auch magisch herbeibeschworen werden. Man lese nur aufmerksam die Tagespresse.
Angela Merkels kritische "Grenz-Situation" von 2015 war für die völkisch gesinnte Rechtsrhetorik deshalb nicht zuletzt in begriffsgeschichtlicher Hinsicht ein Geschenk, das noch immer weidlich weitergetragen und ausgeschlachtet wird. Was umso leichter fällt, als bis zum heutigen Tage ja bedrückend unklar ist, ob dieser Grenzmoment nun einer war, bei dem eine politische Führungsfigur in eigentlichster Entschiedenheit eigene Überzeugungen auffand und mutig verkörperte – oder aber recht uneigentlich gar nichts begriff und entschied.

Klare Anwendungsgrenze: Übergang vom Einzelnen zum Volk

Wie dem auch sei. Zumindest für Jaspers' "Grenzsituation" lässt sich bis heute eine klare Anwendungsgrenze benennen: Sie liegt an der Schwelle vom Ich zum Wir, vom Dasein zum Volk. Wer immer sie überschreitet, führt, anders als der gute Jubilar, Dunkles im Sinn. Und damit zurück ins Fitness-Studio.

Wolfram Eilenberger war langjähriger Chefredakteur des "Philosophie Magazins", ist "Zeit"-Kolumnist, moderiert die "Sternstunden der Philosophie" im Schweizer Fernsehen und ist einer der Programmleiter der "phil. cologne". Für sein jüngstes Buch "Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929" wurde er mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.

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