Philosophische Politikberatung

Was wir von Sigmund Freud lernen können

Von Johanna Tirnthal
Porträt des Psychiaters Sigmund Freud, der als einer der Erfinder der Psychoanalyse gilt. © Imago Stock & People
Von Johanna Tirnthal · 08.10.2017
In unserer Serie "Was tun?" sprechen fünf Gegenwartsphilosophen über fünf Denkerinnen und Denker, die wir im Hier und Jetzt brauchen könnten. Der Berliner Philosoph Samo Tomšič empfiehlt den Psychoanalytiker Sigmund Freud.

Die Person

Samo Tomšič: "Sigmund Freud war ein in Österreich-Ungarn geborener Psychoanalytiker, der seine wissenschaftliche Karriere als Neurologe angefangen hat und sich dann allmählich zur Erforschung der Neurosen, beziehungsweise der psychischen Krankheiten bewegte. Aber eigentlich war seine Hauptbeschäftigung die klinische Praxis. Er war sehr lange vollkommen isoliert. Natürlich war in diesem konservativen Umfeld seine Theorie skandalös."

Die Theorie

"Ich glaube, der Name Freud steht für einen der radikalsten Versuche, die Gesetzmäßigkeiten von menschlichem Denken zu konzeptualisieren, zu theoretisieren. Das heißt, was die Psychoanalyse durch Freud an erster Stelle gemacht hat, war, dass sie die Grenze zwischen dem Subjektiven und dem Gesellschaftlichen verwischte – beziehungsweise eine Grauzone erforschte, wo die selben Strukturen, die unseren Kopf ordnen und die gesellschaftliche Realität beim Funktionieren unterstützen, eine komplexe Interaktion besitzen. Und das würde dann in Freuds Fall – also Freud als Arzt – heißen, dass all die psychischen Leiden, denen er in seiner Praxis begegnete, auf einmal eine kulturelle Erklärung gefunden haben. Also wenn man schon zu Freuds Texten geht und seine Krankenberichte durchblättert oder durchliest, dann sieht man sofort, dass mit einer Patientin oder mit einem Patienten die ganze Kultur auf der Couch liegt."

Warum jetzt?

"Also der Beitrag der Psychoanalyse bestand von Anfang an darin, gesellschaftliche Ordnung durch die Erzeugung von Affekten und durch Erzeugung von dem, was Freud Lust nennt, zu denken. Das heißt, gesellschaftliche Bündnisse sind für ihn libidinöse Bündnisse. Und wenn wir jetzt zu Populismus kommen – also Populismus steht für eine ganz bestimmte Mobilisierung und Organisierung des Begehrens. Eine der Hauptlektionen besteht schon im Begriff des Unbewussten. Also man kann sich hier nicht vormachen, dass all die Menschen, die für den Rechtspopulismus gewählt haben bei der letzten Wahl oder anderswo in Europa, dass wir die aufklären müssen oder sollen.
Das funktioniert nicht auf dieser Ebene. Es geht um eine viel komplexere Aufgabe. Weil gerade diese Menschen auf einer unbewussten Ebene mobilisiert werden. Man muss da aus der psychoanalytischen Perspektive sagen: Das sind auch bestimmte libidinöse Ökonomien. Hass ist eine Form des Genusses. Und das bindet. Das ist sozusagen der Klebstoff des Gesellschaftlichen oder ein möglicher Klebstoff des Gesellschaftlichen. Freud und die Psychoanalyse gibt hier keine Lösungen, sondern macht aufmerksam, was man berücksichtigen muss, wenn man von politischer Subjektivität spricht."
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