Philosophische Orte

Rousseaus Träumereien auf der Petersinsel

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Denkmal des Philosophen Jean-Jacques Rousseau auf der St. Petersinsel im Bielersee in der Schweiz
Klein, unbekannt, einsam: So beschreibt Jean-Jacques Rousseau die Petersinsel. © picture alliance/KEYSTONE / Alain D. Boillat
Von Rafael von Matt · 09.09.2018
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Wie wirken Orte auf das Denken? Und prägen umgekehrt Denker Orte? Wir begeben uns ganz physisch auf die Spuren der Philosophie – und folgen Jean-Jacques Rousseau "zurück zur Natur", auf die Schweizer Petersinsel.
"Von allen Orten, die ich bewohnte, und ich bewohnte deren schöne, machte mich keiner wahrhaft glücklicher und an keinen denke ich mit so zärtlichem Bedauern zurück, wie an die Petersinsel, mitten im Bielersee. Diese kleine Insel ist selbst in der Schweiz kaum bekannt. Kein Reisender tut ihrer Erwähnung, soweit ich weiß. Indessen ist sie sehr angenehm und einzigartig gelegen für das Glück eines Menschen, der sich gern auf sich selbst beschränkt."
Klein, unbekannt, einsam: So beschreibt Jean-Jacques Rousseau die Petersinsel in seinen "Träumereien eines einsamen Spaziergängers". Nur ein einziges Haus gebe es auf der kaum besuchten Insel.

Vom einsamen Eiland zum Ausflugsziel

Heute ist es ganz anders: Weil der Seespiegel gesenkt wurde, ist die Insel inzwischen mit dem Festland verwachsen, zur Halbinsel geworden und ein beliebtes Ausflugsziel – auch wegen Rousseau. Er machte die Petersinsel über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Heute fährt jede Stunde ein Kursschiff die Halbinsel an. Gerade im Sommer strömen die Besucher in Scharen herbei.
Auf der Halbinsel finden die Besucher immer noch – wie Rousseau damals – viel Wald, einsame Spazierwege und lauschige Badeplätze. Und das einzige Haus, das schon vor 250 Jahren stand, ist heute ein Hotel. Dort wohnte der Genfer Philosoph während seiner sechs Wochen auf der Insel.
Hotelmanagerin Deborah Bähler führt ins so genannte Rousseau-Zimmer: "Es hat eine Museumsecke, wo man die Stühle sieht noch, sein altes Bett und dann ein altes Waschbecken…"

Rousseau ließ sich auf dem See treiben

Aber wie Rousseau selber schrieb, verbrachte er gar nicht viel Zeit in seinem Zimmer, sondern war vor allem draußen in der Natur. Seine vielen Bücher ließ er eingepackt in den Koffern – und führte ein ganz anderes Leben als zuvor: machte lange Spaziergänge, betrieb intensive botanische Studien – und es zog ihn immer wieder auf den See hinaus, wie er in den "Träumereien" schreibt:
"Während die anderen noch bei Tisch saßen, schlich ich mich davon und warf mich allein in einen Kahn, und ruderte bis zur Mitte des Sees. Dort streckte ich mich der Länge nach im Boot aus, die Augen gen Himmel gerichtet, und ließ mich manchmal mehrere Stunden lang vom Wasser hin- und hertreiben, in Tausend verworrene aber köstliche Träumereien versunken, die keinen bestimmten und beständigen Gegenstand hatten und mir doch hundertmal mehr Vergnügen machten, als alles, was ich an Süßestem von den sogenannten Freuden des Lebens genossen hatte."

Zurück zur Natur

Rousseau bezeichnete die Zeit auf der Petersinsel als die "glücklichste Zeit seines Lebens". – Das sei verständlich, sagt der Schweizer Philosoph Stefan Zweifel: Denn auf der Petersinsel sei Rousseau seinem philosophischen Ideal – "Retour à la nature!" (Zurück zur Natur!) – am nächsten gekommen. Zweifel befasst sich intensiv mit Rousseau und hat seine "Träumereien eines einsamen Spaziergängers" neu übersetzt. Er ist fasziniert von Rousseaus letztem großen Text. Dieser sei ein eigentliches Psychogramm des Philosophen auf der Selbstsuche:
"Es war der Versuch, nochmals noch authentischer, eben ohne Kontrolle der Vernunft, seine Gefühle, seine Regungen preiszugeben, in einer Schrift, die ganz im Augenblick entsteht, blitzhaft ist und in einem gewissen Sinne unkalkuliert auf den Effekt, aber gerade deshalb so effektvoll ist, dass dann viele Autoren, wie Goethe oder Sebald, bis auf die Petersinsel pilgerten, um diesen Ort der Inspiration zu erleben."

Die glücklichste Zeit seines Lebens

Rousseau löste mit seinem Text einen richtigen Hype um die Petersinsel aus. Das hängt sicherlich mit dem Fazit seines Textes zusammen, einer wahren Hymne auf das kleine Eiland:
"Man ließ mich kaum zwei Monate auf der Insel verbringen. Aber ich hätte zwei Jahre, zwei Jahrhunderte, die ganze Ewigkeit dort verbracht, ohne einen Augenblick Langeweile zu haben. Ich halte diese zwei Monate für die glücklichste Zeit meines Lebens und so glücklich war ich, dass ich mein ganzes Leben hindurch zufrieden gewesen wäre, ohne, dass auch nur für einen einzigen Augenblick in meiner Seele der Wunsch nach einem anderen Zustand aufgekommen wäre."
Wer das liest, muss fürwahr den Drang verspüren, selbst sein Glück auf der Petersinsel zu suchen.
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