Philosophische Flaschenpost

Wittgenstein und die zweifelhaften Hirne

05:26 Minuten
Eine historische, weibliche Puppe mit einer offenen Schädeldecke, die den Blick auf das Modell des menschlichen Gehirns darbietet.
Oha, schon wieder ein Gehirn: Radikale Skeptiker bestehen darauf, dass wir nie sicher sein können, was sich im Kopf eines anderen Menschen befindet. © unsplash / David Matos
Von David Lauer |
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Es soll nach Wittgenstein ein Zufall sein, dass man bisher in allen geöffneten Schädeln ein Gehirn gefunden hat? Dieses Bonmot klingt, auf eine Postkarte gedruckt, ziemlich skurril. Hier gibt es die Aufklärung.
Ludwig Wittgenstein war einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts und noch dazu ein besonders schillernder. Manche seiner Sentenzen lesen sich, aus dem Kontext gerissen, allerdings recht rätselhaft. Zum Beispiel dieses:

Es ist ein seltsamer Zufall, dass all die Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, ein Gehirn hatten.

Der Philosoph David Lauer entschlüsselt für uns: Das Zitat stammt aus einem der letzten Manuskripte, die Wittgenstein verfasst hat, erschienen 1969 unter dem Titel „Über Gewissheit“. Wittgenstein setzt sich darin mit dem neuzeitlichen Skeptizismus auseinander, also mit der Frage: Können wir beweisen, dass es die Welt außerhalb unseres Bewusstseins wirklich gibt?

Auf dem nackten Fels des Daseins

Wittgenstein wendet sich gegen den Skeptizismus, indem er davon ausgeht, dass die Existenz der Welt der absolut unhintergehbare und unhinterfragbare Grund, „der nackte Fels“, unseres alltäglichen Lebens und Handelns ist, erklärt Lauer.
Um zu verdeutlichen warum, ein radikaler Skeptizismus irregeleitet ist, rekurriert er auf die Tatsache, dass jeder von uns annimmt, ein Gehirn zu haben, dies aber nicht bewiesen ist. Anhänger eines Skeptizismus, der alles Nichtbewiesene radikal infrage stellt, müssten es also strenggenommen für einen Zufall halten, „dass all die Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, ein Gehirn hatten“.

Wenn radikaler Zweifel ins Verrückte kippt

Mit diesem Satz illustriert Wittgenstein also, erläutert Lauer, dass eine radikal skeptische Position nicht vernünftig ist, sondern in Lauers Worten: verrückt. – „Das Alltäglichste anzuzweifeln, heißt, dem Decken selbst den Boden wegzuziehen“, diese Lehre gebe uns Wittgenstein heute noch mit auf den Weg, meint Lauer und spitzt zu:
„Die Geisteshaltung, die Wittgenstein dort anzweifelt, ist die Geisteshaltung heutiger Verschwörungsmythengläubiger, die eine offenkundige Form des Wahnsinns an den Tag legen, die sie selbst aber für die einzig legitime, kritische Vernunft halten und alle anderen, die nicht so denken wie sie für dumme Schafe. Was man in Wittgensteins Text wunderbar sehen kann, ist, wie man von scheinbar ganz vernünftigen und legitimen Zweifeln und Fragen ausgehend in diese Form des Wahnsinns abrutschen kann“.

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