Philosophierende Vögel

07.01.2013
Eine Kolonie von Graufinken wird mit einer Bombe und einem Flugzeug konfrontiert. Die Vögel beginnen zu disputieren, was diese Dinge zu bedeuten haben. Das Ergebnis ist eine gleichnishafte Erzählung, eine Großparabel in Form einer Graphic Novel.
Außerirdische besuchen die Erde und lassen dort rätselhafte Dinge zurück. Die Menschen begreifen nicht, was diese Artefakte zu bedeuten haben. Diese Idee haben die sowjetischen Autoren Arkadi und Boris Strugazki in ihrem einflussreichen Science-Fiction-Roman "Picknick am Wegesrand" durchgespielt. Der amerikanische Zeichner Anders Nilsen nutzt eine ähnliche Konstellation für sein voluminöses Comic-Buch "Große Fragen", allerdings überträgt er die Rolle der von einer unbegreiflichen Macht heimgesuchten Menschen auf Vögel.

Eine Kolonie von Graufinken wird mit einer Bombe konfrontiert, die ein Militärflugzeug verloren hat. Für die Vögel gleicht die nicht explodierte, aber tickende Bombe einem Ei, sodass sie sich entschließen, sie zu bebrüten. Ähnlich reagieren die Finken auf ein Flugzeug, das wie ein riesiger Vogel in ihrer Steppe niedergeht. Der Kanzel entsteigt der Pilot, in dem die Vögel ein Riesenküken sehen. Fürsorglich belagern sie nun das Zelt des Piloten und versuchen ihn mit Häufchen von Würmern zu füttern.

Diese Vögel neigen zum Philosophieren und versuchen in ihren Disputen zu verstehen, was die neuen Dinge in ihrer Welt zu bedeuten haben. Ein besonders gläubiger Vogel hält die Bombe für ein göttliches Zeichen und ordnet Versammlungen rund um das Riesen-Ei an – mit fatalen Folgen für viele der Vögel, als die Bombe schließlich explodiert. Das Unglück liefert einen weiteren Anlass, über Schuld, Schicksal und Tod zu diskutieren.

Der Comicautor Anders Nilsen hat schon vor 15 Jahren begonnen, seine Parabeln von nachdenklichen Vögeln zu zeichnen. Die Graufinken-Geschichten hat er in jährlichen Lieferungen veröffentlicht, jetzt sind sie zum ersten Mal in "Große Fragen" versammelt. Die lange Entstehungszeit ist sichtbar in der Sammlung, unter anderem in der Vielfalt der Richtungen, die diese gleichnishafte Erzählung einschlägt. Ein Teil führt in die Unterwelt, in ein Jenseits für immer schlafender Vögel, aus denen ein trauernder Orpheus-Fink seine Gefährtin hinauszuführen versucht. Andere Szenen kreisen um gefräßige Eulen, bedrohliche Krähenbanden oder eine weise Schlange.

Tiergeschichten sind nicht neu für das Medium Comic, zwischen den Mickey-Mouse-Stories und Art Spiegelmans epochalen "Maus"-Büchern findet man eine enorme Bandbreite von Spielformen. Es gibt aber wenige Beispiele, in denen ein Comicautor eine Tiererzählung so eindringlich für eine Großparabel genutzt hat. In seinen hilflosen, existenziell beunruhigten Vögeln scheint eine metaphysische Verlorenheit auf, wie sie kaum eine Graphic Novel je gezeigt hat. Nilsens sparsamer Schwarz-Weiß-Stil verstärkt den Eindruck einer aufs Äußerste zerbrechlichen Welt, besonders bei den zarten Landschaften, die in feinsten Linien auf die Seiten gestrichelt sind. Dass Anders Nilsen seine meditative Fabel über die "Großen Fragen" auch mit einer Aura aus Ironie, Witz und Absurdität ausgestattet hat, das spricht zusätzlich für dieses Buch.

Besprochen von Frank Meyer

Anders Nilsen: Große Fragen
Atrium Verlag, Zürich 2012
604 Seiten, 39,95 Euro