Philosophie

Zwergen-Weitwurf? Nicht würdelos!

Philosoph Peter Bieri
Philosoph Peter Bieri © picture-alliance/ dpa / Keystone Urs Flueeler
Von Arno Orzessek · 23.12.2013
Peter Bieri bietet keine fertigen Rezepte zur Vermehrung von Würde. Sein Buch erlaubt dem Leser aber, sich Erfahrungen von Würde intuitiv und empfindsam zu nähern und einen eigenen Standpunkt zu erproben.
Erhaben und zugleich windig: Das ist die Würde als Begriff. Sie gehört zum Substanzkern des Humanen, schmückt jedes politische Laber-Repertoire und kulminiert in der überstrapazierten, rechtlich komplexen Menschenwürde. Es ist leicht, aus weltanschaulicher Perspektive allerorten das Fehlen von Würde zu beklagen. Schwieriger ist es, ohne starke Negativfolie würdig über die Würde zu schreiben. Peter Bieri indessen gelingt genau das - nicht zuletzt, weil er "Eine Art zu leben" ausdrücklich "in der Tonlage des gedanklichen Ausprobierens" verfasst hat, die den Leser permanent zur intellektuellen Eigeninitiative (vulgo: zum Mitdenken) motiviert.
Der Philosoph Bieri verzichtet auf kulturhistorische Würde-Lektionen und mischt sich in wissenschaftliche Debatten nicht ein. Seine bekenntnishafte Pathosformel steht in der Einleitung: Würde ist für Bieri "nicht irgendeine Lebensform, sondern die existenzielle Antwort auf die existenzielle Erfahrung der Gefährdung" - die wiederum darin besteht, sich ohne innere Haltung vom Lauf der Dinge fortreißen zu lassen.
Laut Bieri hat Würde drei Dimensionen, die er mit Fragen umreißt: Wie werde ich von den anderen Menschen behandelt? Wie behandele ich sie? Und wie stehe ich zu mir selbst? Subjekt und Selbstzweck zu sein, das sind die von Immanuel Kant übernommenen Koordinaten des Menschseins, die Bieri hochhält und sogleich in der Krise zeigt: beim Zwergen-Weitwurf. Würdelos! lautet Bieris überlegtes Urteil. Aber dann lässt er - typisch Bieri - den Zwerg zu Wort kommen, der seine Würde als Selbstzweck durchaus gewahrt sieht, weil er sich freiwillig werfen lässt und eigenes Geld verdient.
Das Buch hält Distanz zum digitalen Meinungswirbel
Stets vorsichtig also tastet sich Bieri zu den raren Gewissheiten vor, die in puncto Würde zu haben sind, formuliert gelegentlich griffige Parolen - "Würde ist das Recht, nicht gedemütigt zu werden", "Wenn jemand einem anderen die Würde nimmt, verspielt er seine eigene" - und zeigt deren oft komplizierte praktische Anwendung. Fallbeispiele sucht sich Bieri zumeist in der Literatur, etwa in Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden", Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", Franz Kafkas "Der Prozess". Der positive Effekt: Das Buch hält Distanz zum medialen Meinungswirbel rund um die Würde. Gleichwohl kann Bieri streng sein. Paparazzi etwa verletzten "die menschliche Würde als Achtung vor Intimität. Es ist eine erbärmliche Art, sein Geld zu verdienen." Basta!
Alle Kapitel sind gedanklich dichte Entfaltungen eines letztlich diffusen Sinn-Kerns: "Würde als Selbständigkeit", "Würde als Begegnung", "Würde als Wahrhaftigkeit", "Würde als Selbstachtung". Reflexionen über selbstbestimmtes Sterben und die Achtung vor den Toten stehen am Ende. Bieri missioniert nicht, er bietet auch keine fertigen Rezepte zur Vermehrung von Würde. Sein Buch erlaubt dem Leser aber, "den intuitiven Gehalt der Erfahrungen von Würde" kennenzulernen und den Standpunkt der Würde für sich selbst zu erproben. Auch ohne blendende theoretische Erkenntnisse gesammelt zu haben, weiß und vor allem: empfindet man hinterher, warum Würde Menschen größer macht, Würdelosigkeit aber kleiner.

Peter Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde
Karl Hanser Verlag, München 2013
384 Seiten, 24,90 Euro

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