Philosophie in der DDR

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Das Gesicht von Karl Marx als Nahaufnahme einer Büste
Seine Lehre sollte die Politik der DDR legitimieren, dabei seien auch skeptische Töne von Karl Marx selbst ausgeblendet worden, sagt Kulturwissenschaftlerin Renate Reschke. © imago images/ Photocase
Renate Reschke im Gespräch mit Christian Möller · 03.11.2019
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Philosophie an die Macht? Die DDR-Führung nahm diese Utopie für sich in Anspruch. Sie erklärte den Marxismus-Leninismus zur Staatslehre. Wer anders dachte, musste sich Nischen suchen, sagt die Kulturwissenschaftlerin Renate Reschke.
Dass Intellektuelle zu Staatenlenkern werden, ist ein uralter Traum der Philosophie. Karl Marx fand dafür die bekannten Worte: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Das Zitat schmückt seit 1953 das Foyer der Berliner Humboldt-Universität. Aber vom eigenen Anspruch, Politik nach philosophischen Maßstäben zu gestalten, sei der reale Sozialismus weit entfernt gewesen, sagt die Kulturwissenschaftlerin Renate Reschke:
"Dieser Traum hat sich noch nie erfüllt. Es ist eine große Intellektuellenillusion, dass Philosophen je Staaten lenken könnten. Ich glaube, Philosophen sind nie Politiker im eigentlichen Sinne und wollen es auch gar nicht sein."

Philosophisch fundierte Staatsideologie

Nichtsdestotrotz habe die DDR-Führung "auf den sogenannten wissenschaftlichen Marxismus gesetzt" und erklärt, "dass sie ihre Politik auf philosophisch begründeten Prämissen aufbauen wollte", sagt Reschke. Institutionen wie die "Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED" seien geschaffen worden, um Vorlagen für die offizielle Ideologie der DDR zu liefern. Dort beschäftigte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fühlten sich dem Staat daher "in besonderer Weise verbunden und verpflichtet", so Reschke.
Renate Reschke am Redner Pult.
"Dass Philosophen Staaten lenken könnten, ist eine Intellektuellen-Illusion": Renate Reschke © Privat
Wer philosophisch von der offiziellen Linie abwich, musste sich Nischen suchen. In den frühen 1960er-Jahren erlebte Renate Reschke als Studentin, wie sich die Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität als eigenständiges Fach etablierte und aus der Philosophie herauslöste. Hier habe man freier reden können, sagt sie:
"Wir haben einen der wichtigsten Sätze von Marx sehr ernst genommen: ‚An allem muss man zweifeln.‘ Wir Kulturwissenschaftler haben den ernster genommen als die sogenannte orthodoxe offizielle Philosophie. Die hat darüber seltener gesprochen - oder gar nicht."

Kulturwissenschaft als philosophischer Freiraum

Die Ausgliederung aus der Philosophie habe der Kulturwissenschaft einen gewissen Freiraum ermöglicht, erinnert sich Reschke. Als einer ihrer Lehrer, der Philosoph Wolfgang Heise, aufgrund von Äußerungen zu den Ereignissen des Prager Frühlings "in Ungnade gefallen" sei, habe er bei der Kulturwissenschaft Aufnahme gefunden: "Das war für ihn eine Rettung, auch im existenziellen Sinne."
Reschke selbst nutzte die Freiheit der Nische, um zum Werk eines Denkers zu forschen, der von der "Staatsphilosophie" als Systemgegner betrachtet wurde: Friedrich Nietzsche. Das offizielle Nietzsche-Bild habe den Philosophen auf eine "Vorreiterrolle für den deutschen Faschismus" festgelegt, so Reschke. Sie entdeckte in seinen Schriften dagegen zeitkritische Analysen, etwa zu den Lebensbedingungen des beginnenden Industriezeitalters.

Nietzsche-Forschung unter Generalverdacht

In Seminaren und Symposien gelang es Reschke, ihre eigene Sicht auf den Philosophen zur Diskussion zu stellen. Ihre Habilitationsschrift "Denkumbrüche mit Nietzsche: zur anspornenden Verachtung der Zeit" konnte jedoch erst nach 1989 erscheinen. Der marxistische Publizist Wolfgang Harich, der jede Beschäftigung mit Nietzsche als Frevel auffasste, hatte seinen Einfluss geltend gemacht und eine Publikation zu DDR-Zeiten verhindert.
Der Philosoph und Dozent an der Ost-Berliner Humboldt-Universität, Wolfgang Harich (r), während des 3. Westberliner Treffens des DDR-Kultusministers Johannes R. Becher (l) mit westberliner Journalisten, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden. 
Nietzsche? Nicht mit ihm: Wolfgang Harich (r.), hier 1955 mit DDR-Kulturminister Johannes R. Becher (l.), nutzte seinen Einfluss, um Publikationen zum Werk des Philosophen zu verhindern.© dpa
Die Jahre direkt nach dem Mauerfall hat Reschke als "unruhige, unsichere Zeit" in Erinnerung, in der "die eigene intellektuelle oder wissenschaftliche Biographie sehr in Frage gestellt schien". Sie selbst erhielt eine Professur in Berlin, aber viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten an ihre Tätigkeit in der DDR nicht anknüpfen. Philosophen aus den östlichen Bundesländern, die Professuren im Westen bekamen, stellten eine Ausnahme dar, so Reschke. An Hochschulen in den neuen Bundesländern seien viele Stellen dagegen ausdrücklich für Bewerberinnen und Bewerber aus dem Westen ausgeschrieben worden.

Plädoyer für einen philosophischen Blick auf die Künste

Was bleibt von der DDR-Philosophie? An welche Ideen oder Errungenschaften lohnte es, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer anzuknüpfen? Renate Reschke betont das Verdienst "der wirklich philosophischen Köpfe, immer auch über den Tellerrand hinaus zu schauen, nämlich in Richtung auf die Künste." Diesen Vorstoß, der im Widerspruch zur offiziellen "Staatsphilosophie" stattfand, hält Reschke auch heute noch für fruchtbar:
"Weil die Künste ja immer Seismographen dessen sind, was in der Gesellschaft passiert, also sozusagen immer einen Schritt voraus sind. Da kann die Philosophie sehr partizipieren, und ich glaube, das haben die wirklichen Philosophen auch getan."
(fka)

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