Philosophie des Silicon Valley

Der Geist des digitalen Kapitalismus

42:42 Minuten
Ein 3D-generiertes Bild mit der Darstellung einer Künstlichen Intelligenz, die vor einer sitzenden Personengruppe auf einen Bildschirm projeziert wird.
Kann KI Politik ersetzen? Unter den Konzernlenkern des Silicon Valley ist diese Überzeugung verbreitet, sagt der Soziologe Oliver Nachtwey. © Getty Images / E+ / gremlin
Oliver Nachtwey im Gespräch mit Simone Miller · 09.08.2020
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Für jedes Problem gibt es eine technische Lösung. Auf diesem Versprechen beruht der Erfolg von Internetgiganten wie Google, Amazon und Facebook. Doch deren Philosophie habe auch autoritäre Züge, warnt der Soziologe Oliver Nachtwey.
Heißluftballons, Drohnen oder gleich Satelliten? Das sind nur drei der Ideen, mit denen sich Facebook, Google und andere Unternehmen des Silicon Valley in Afrika in Stellung bringen, um einen stabilen Internetzugang auf dem gesamten Kontinent zu garantieren. Aus Sicht der Tech-Giganten gehen dabei Weltverbesserung und Profitmaximierung Hand in Hand. Nichtregierungsorganisationen sehen allerdings die Gefahr einer wachsenden Abhängigkeit von der privaten Infrastruktur und geringe Mitsprache beim Datenschutz.

Geschäftsmodelle für den ganzen Planeten

Für den Soziologen Oliver Nachtwey sind gigantische Projekte dieser Art, gerade in ihrer Ambivalenz, Beispiele für die Philosophie des Silicon Valleys, deren Kerngedanken er mit Kolleginnen und Kollegen an der Universität Basel derzeit erforscht.
"Es gibt keinen Mangel an Selbstbewusstsein im Silicon Valley", so Nachtwey: "Die CEOs von Google sagen ganz explizit: Wenn du ein Geschäftsmodell hast, mit dem du Millionen Menschen hilfst, dann bist du nicht erfolgreich, sondern erst, wenn es Milliarden Menschen erreicht. Die haben wirklich eine planetarische Vorstellung davon, was sie mit ihrer Technik erreichen wollen.

Durch Technik zum Übermenschen

Die gigantischen Zielvorstellungen schlagen sich auch in einem bestimmten Selbst- und Menschenbild nieder, das laut Nachtwey viele Denkfiguren der klassischen Moderne übernimmt, insbesondere der Technikanthropologie: Der Mensch werde demnach, in der Tradition des Philosophen Arnold Gehlen, als "Mängelwesen" betrachtet, das aber durch Technik zum "Übermenschen" werden könne.
Dieser sogenannte Transhumanismus findet sich besonders ausgeprägt beim Google-Cheftechniker Ray Kurzweil, der die menschliche Unsterblichkeit anstrebe. Darüber hinaus habe er mit seiner Vision einer gottgleichen, weltumspannenden "Singularität" von sich reden gemacht, die nach Kurzweils Vorstellung aus einer immer klüger werdenden KI hervorgehen werde. Diese allwissende, allmächtige KI würde die Welt dann besser steuern, als es die heutigen Menschen selbst je könnten. Damit stelle Kurzweil gewissermaßen Nietzsches Ausspruch vom "Tod Gottes" auf den Kopf, so Nachtwey: "Früher gab es wahrscheinlich keinen Gott, aber es wird einen geben."
Der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey
"Kein Mangel an Selbstbewusstsein": Der Soziologe Oliver Nachtwey erforscht die Philosophie der Internet-Visionäre.© Oliver Nachtwey
Um dieses Denken auf den Punkt zu bringen, bedient sich Nachtwey bei dem US-amerikanischen Internet-Kritiker Evgeny Morozov: Als "Solutionismus" bezeichnet Morozov die Annahme, dass es für jedes gesellschaftliche Problem eine technische Lösung gebe. Damit gehe eine Abwertung von Interessenkonflikten und politischer Meinungsbildung einher, so Nachtwey. Unter den führenden Köpfen des SiliconValley sei dieser Glaube an unbegrenzte technische Möglichkeiten durchaus weit verbreitet.
Gemeinsam mit seinem Team hat Nachtwey Biographien, Vorträge und sonstige Äußerungen der Silicon-Valley-Protagonisten untersucht, aber auch eigene Interviews etwa mit Google-Ingenieuren in Zürich geführt, um herauszuarbeiten, welche zentralen Gedanken den "Geist des digitalen Kapitalismus" prägen. Denn das sei ja gerade die "Pointe bei einem Geist, dass er auf andere Weltregionen ausstrahlt".

Antidemokratische Tendenzen

Umso gefährlicher erscheinen Nachtwey die damit einhergehenden Versuche, demokratische Verfahren zu untergraben: Auf den ersten Blick seien die meisten Tech-Unternehmer zwar "keine Antidemokraten", sondern würden meist ein "kosmopolitisches bis linkes Weltbild" vertreten. Zugleich aber teilten sie alle eine fundamentale Kritik an Staat und Verwaltung, als zu aufgebläht, zu langsam und die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger verfehlend.
Und diese Staatsfeindlichkeit könne durchaus zur Gefahr für die Demokratie werden, wie sich an Projekten für eine "Smart City" zeige: Straßenverkehr, Energiebedarf, Bauentscheidungen – alles würde dort über algorithmische Verfahren quasi automatisch geregelt, statt über eine Interessenabwägung in kommunalen Ausschüssen: Die Aushandlung unterschiedlicher Interessen sei aber gerade der "Kern der Demokratie", so Nachtwey.

Kybernetik statt Politik

"Die versuchen im Grunde, durch eine Art kybernetische Selbststeuerung die Demokratie zu umgehen, und damit aber auch den Konflikt zu umgehen – und wir wissen ja, dass der Konflikt dann in den Algorithmen selbst enthalten ist", gibt Nachtwey zu bedenken. Tatsächlich zeigen viele Studien, wie Vorurteile von Programmiererinnen oder gesellschaftliche Benachteiligungen in Software-Programmen reproduziert werden: Wenn etwa Gesichtserkennungssoftware bei Gesichtern von Schwarzen deutlich schlechter abschneidet, oder wenn gesellschaftlichen Minderheiten automatisch geringere Job-Chancen zugerechnet werden.
Bei aller Kritik will Nachtwey die Digitalisierung nicht verteufeln, sondern den Blick für eine differenzierte Betrachtung schärfen: Im Falle des Arabischen Frühlings oder der Occupy-Bewegung hätten sich die positiven Möglichkeiten etwa sozialer Netzwerke gezeigt – aber heute würden sie von Rechtspopulisten für ihre Zwecke missbraucht. Und die neue digitale Arbeitswelt hätte zwar für einige Menschen tatsächlich mehr Autonomie und Selbstverwirklichung gebracht. Aber die Rückseite der Medaille seien Selbstausbeutung, prekäre Arbeitsverhältnisse und Existenzängste.

Rundfunkräte auch für Tech-Giganten

Was also gegen diese Tendenzen tun? Für den Baseler Soziologen liegt die Antwort zunächst in einem Perspektivwechsel: Immerhin sei "Facebook mittlerweile so etwas wie der öffentliche Rundfunk ist" – eine gesellschaftliche Institution, die "zentral für die Meinungsbildung in einer Gesellschaft und für den ganzen Verkehr von Informationen" sei.
Wenn aber Facebook und andere Internetunternehmen derart umfassend unser öffentliches Leben prägten, so Nachtwey, "dann dürfen sie nicht im Besitz von einigen wenigen Personen sein, die auch bestimmte Interessen verfolgen, sondern dann müssen wir sie auch demokratisch kontrollieren dürfen." Durch eine stärkere Beteiligung der Nutzer, aber auch der Beschäftigten und der breiteren Öffentlichkeit, nach Art der Rundfunkräte: "Dass man Personen, die öffentlich legitimiert sind, zur Kontrolle dieser Medien einsetzt, ob sie ihre Funktion, ihre Macht wirklich sinnvoll ausüben, das halte ich für gute Verfahren."
(ch)

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