Wandern - Weg zu Selbsterkenntnis?
05:22 Minuten
Wer wandert, kommt nicht nur zur Ruhe, sondern findet auch zu sich selbst. Stimmt nicht, meint der Schriftsteller und Wanderer Florian Werner. Wer lange geht, verliert sich. Zum Glück.
Aufbruch. Der Weg liegt still im Morgengrauen. Keine übergeschnappten Automobilisten, die mit Lichthupengewitter angerast kommen, um sich die Überholspur freizuschießen. Keine nervigen Mitfahrer, die den ganzen Bahnwagen an ihren Telefonkonferenzen teilhaben lassen. Nur ein einsamer Wandernder, ganz bei sich, bei seinen Erinnerungen und Gedanken. Der ideale Moment zur inneren Einkehr, zur Selbstbefragung. Oder?
Der lange Weg zu sich selbst
Wer zu Fuß geht, so eine weitverbreitete Vorstellung, der kommt nicht nur an einem Zielort, sondern vor allem bei sich selbst an. In der Tat war schon der wohl älteste Weg zur Selbsterkenntnis mit einer Bergtour verbunden. Die Tempelanlage von Delphi, Heimat des gleichnamigen Orakels, liegt auf einer Höhe von 700 Metern am Fuße des Parnass. Die wandernden Sinnsucher, die sich vom Golf von Korinth bis hier hochgequält hatten, belehrte eine Aufschrift: Gnothi seauton. "Erkenne dich selbst!"
Wie geläufig die Vorstellung ist, dass Wandern und Wesensart Hand in Hand gehen, zeigt sich bis heute in der Sprache. Der "Lebensweg" umfasst alle Schritte, die wir getan haben: biografische "Abzweigungen", die wir genommen, genauso wie existenzielle "Sackgassen", in die wir uns verrannt haben. Der sogenannte Wiedergänger wandert diese via vitae nach, wenn wir uns zur letzten Rast gelegt haben. Und das bevorzugte Schreckgespenst der Romantik, der "Doppelgänger", schockiert vor allem dadurch, dass er unsere Individualität infrage stellt: dass er, um im Bild zu bleiben, "in unsere Fußstapfen tritt".
"Alles ist der Wanderbarlichkeit unterworfen"
Identität ist eine Kohärenzerfahrung: Sie lässt den Lebensweg als einzigartige, zusammenhängende, vielleicht sogar sinnvolle Strecke erscheinen. Folgerichtig stellen viele literarische Wanderungen eine Reise in die Vergangenheit dar. Der Autor Michael Holzach etwa klapperte für seinen Bestseller "Deutschland umsonst" ein halbes Jahr lang prägende Orte seiner Kindheit und Studentenzeit ab.
"Ich wollte einfach losgehen und die Orte ansteuern, die mit mir persönlich etwas zu tun haben." Aber fand er dabei tatsächlich sein früheres Ich wieder? Natürlich nicht. Die Zeiten ändern sich, und wir uns mit ihnen. Oder wie es der frühneuzeitliche Kosmograph Sebastian Münster formulierte: "Alles ist der Wanderbarlichkeit unterworfen."
"Wanderbarlichkeit", das hieß im 16. Jahrhundert so viel wie: Veränderung. Etymologisch gesehen hat Wandern nämlich keineswegs etwas mit identitärer Beständigkeit zu tun: Der Begriff leitet sich vom althochdeutschen Wort "wantôn" her, das auch "sich wandeln" oder "wenden" bedeuten konnte. Wer wandert, der verwandelt sich.
Dies legt eine völlig andere identitätsphilosophische Interpretation des Gehens nahe. Wer sich zu Fuß auf den Weg macht, der kann gar nicht sein wahres Selbst finden, im Gegenteil: Er durchläuft ungezählte Metamorphosen, nimmt alle möglichen Gestalten an, wird zu einem wandelbaren Jedermann - oder einer Jederfrau.
Das eigene Ich abwerfen: "Wolke werden, oder Fluss"
Wir sind nicht mehr ganz wir selbst. "Wenn wir an einem schönen frühen Abend zwischen vier und sechs aus dem Haus treten, werfen wir das Ich ab, an dem uns unsere Freunde erkennen, und werden Teil jener großen Armee anonymer Wanderer, deren Gesellschaft so angenehm ist nach der Einsamkeit des eigenen Zimmers." So Virginia Woolf in ihrem Essay "Street Haunting. A London Adventure". Und das gilt selbstverständlich nicht nur für die Flâneuse in der Großstadt, sondern auch für den Geher in der freien Natur.
"Wer wandert, der wird selbst zur Landschaft, er wird Wolke oder Fluß", schrieb entsprechend der Autor Hans Jürgen von der Wense. Womöglich ist dies das wahre Ziel des Wanderns: seine Identität abzustreifen wie ein durchgeschwitztes Funktionsunterhemd und sich ganz der Bewegung, der Umgebung, der Strecke hinzugeben. Sich aufzulösen, sein Selbst zu verlieren – um sich dann, am Ende des Wegs, wieder neu zu begegnen. Falls man sich zufällig trifft.