Philosophie der Pause

Nichtstun ist wie sterben üben

29:41 Minuten
Ein Wecker auf buntem Hintergrund zeigt 19 Uhr an.
In Pausen lernen wir, die Welt auch ohne uns zu denken, meint die Philosophin Alice Lagaay. © Unsplash/ Icons Team
Alice Lagaay im Gespräch mit Simone Miller · 11.04.2021
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Nichtstun hat in unserer auf Effizienz und Produktivität getrimmten Kultur einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, findet die Philosophin Alice Lagaay. Denn Pausen und "Nichttun" ermöglichten kostbare und philosophisch existenzielle Erfahrungen.
Noch schnell die E-Mail an den Chef schreiben, die Freundin anrufen oder die neuesten Nachrichten am Smartphone checken: Kaum jemand, der in der U-Bahn, in Warteschlangen oder in anderen Momenten, in denen es nichts zu tun gibt, auch wirklich nur dasitzt und nichts tut. Warum fällt es uns so schwer, einfach mal Pause zu machen?
"Ich glaube, weil wir einfach unter diesem Motto leben, dass wir produktiv sein müssen", sagt die Philosophin Alice Lagaay, Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.

Man muss nicht immer Impulse geben

Doch warum gilt eigentlich nur ein Leben oder auch ein Tag, der effektiv und produktiv ist, als wertvoll, fragt die Philosophin. Sie hingegen sieht in den Momenten, in denen nichts passiert, etwas sehr Kostbares und Existenzielles:
"Im Grunde ist das Warten oder Nichttun oder Pausieren eine Art des Übens von Totsein oder Sterben, und zwar als positive Sache, weil man dabei lernt oder die Erfahrung macht, wie es ist, nicht unbedingt aktiv involviert zu sein, nicht immer Impulse geben zu müssen."
Stattdessen erfahre man so die Welt aus einer Position der Indifferenz – fast so, als wäre man gar nicht da. Dieses existenzielle Bewusstsein – die "Erkenntnis, dass man hier ist und nicht genau weiß, wozu oder warum" – sei für manche eine durchaus unbequeme Erfahrung, sagt Lagaay. Und sie lenkten sich durch Aktivität davon ab.
Dabei hätten wir durch das Zurücktreten, das Aufhören, etwas zu tun, auch die Möglichkeit, Achtsamkeit zu lernen – dafür, den richtigen Moment zu erspüren, wann etwas von einem verlangt wird und wann nicht.
Etwa als Elternteil: "Wann muss ich den Kindern einen Impuls geben, und wann ist es ganz wichtig, ihnen wenig Aufmerksamkeit zu schenken und sie einfach machen zu lassen", so die Philosophin. "Manchmal muss ich das, was ich koche, in Ruhe lassen, nicht zu viel machen. Manchmal muss ich sogar meine Arbeit ruhen lassen. Ich muss sie unterbrechen und die Arbeit selbst fragen, was sie werden will."
Ein Porträt von Alice Lagaay.
Alice Lagaay kennt keine Langeweile. Die Momente, in denen nichts passiert, sind ihr kostbar.© Moritz Wehrmann
Das setze aber voraus zu verstehen, dass nicht alles von einem selbst abhänge – und bereit zu sein, sich in den Austausch mit den Dingen zu begeben und diese sprechen zu lassen:
"Ob es jetzt ein Mensch ist, ein Tier, eine Pflanze oder etwas, womit ich kreativ am Arbeiten bin. Dieses Andere als etwas Mündiges sich vorzustellen, ist eine ethische Haltung und hat dann eine Auswirkung auf die Art und Weise, den Modus und die Haltung, mit der ich dann selbst in die Welt trete oder mit der Welt kommuniziere."
(uko)

Alice Lagaay ist Philosophin und Professorin für Ästhetik und Kulturphilosphie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft Hamburg. Sie ist Mitgründerin des Netzwerks "Performance Philosophy" und erforscht schwerpunktmäßig Aspekte der sogenannten negativen Performanz: Indifferenz, Nichttun, Zurückhaltung.

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