Philosoph und Theologe

Von Michael Hollenbach · 21.11.2009
Gottfried Wilhelm Leibniz war Naturwissenschaftler, Mathematiker, vor allem aber auch Philosoph und Theologe. In Hannover, wo er auch begraben ist, hat man Leibniz in den vergangenen Jahren wiederentdeckt - auch gerade von der evangelischen Kirche.
"Einen schönen guten Tag, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie herzlich in der jungen Residenzstadt Hannover und möchte mich gern mal vorstellen: meine Name ist Gottfried Wilhelm Leibniz, Universalgelehrter, welfischer Hofchronist und ach ja, seit über 30 Jahren hier in Hannover tätig am Hof der Welfen."

Wir befinden uns im Jahr 1710. Gottfried Wilhelm Leibniz, das Genie, geboren 1646. Als Achtjähriger erlernt er autodidaktisch die lateinische und griechische Sprache, mit zwölf entwickelt er die Anfänge einer mathematischen Zeichensprache, mit 16 wechselt er an die Universität und mit 21 Jahren promoviert er. Leibniz – mittlerweile 64 - ist in der hannoverschen Provinz Hofrat und Hofbibliothekar.

"In Hannover habe ich niemanden, mit dem ich gelehrt sprechen kann außer Kurfürstin Sophie."

Leibniz gilt als einer der letzten Universalgelehrten. Er ist Jurist, Naturwissenschaftler, Philosoph, Historiker, Mathematiker und Theologe.

"Mein wichtigster Leitspruch ist ja: Theorie cum praxi, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, ich wollte nicht, dass meine Ideen zur Verbesserung der menschlichen Gemeinschaft allein und ausschließlich in Büchern aufgeschrieben werden, um in den Regalen der Bibliotheken zu verstauben, ich wollte sie ins Werk gesetzt sehen."

Und das hat er getan.

Erfindung des Dualsystems
Entwicklung der Dezimalklassifikation
Pläne für ein U-Boot
Verbesserung der Technik von Türschlössern
Gerät zur Bestimmung der Windgeschwindigkeit
Gründung einer Witwen- und Waisenkasse
Erfindung der Staffelwalze für eine mechanische Rechenmaschine
Erfindung der Infinitesimalrechnung.

"Ja, meine Herrschaften, nun befinden wir uns hier in der Neustadt, wir haben die Altstadt hinter uns gelassen. Während die Altstadt sich dadurch auszeichnet, dass dort nur Protestanten wohnen dürfen, gibt es in der Neustadt eine religiöse Freizügigkeit."

Erklärt Reiner Künneke, der in der Rolle des Universalgelehrten Touristen durch Hannover führt - auf den Spuren Leibniz’.

"Hier treffen wir vier Konfessionen an: dort in der Neustädter Kirche, eine protestantische Kirche, dahinter befindet sich die jüdische Synagoge, dahinter wird ein katholisches Gotteshaus gebaut und auf der anderen Seite dort sehen Sie eine Kirche für die reformierte Gemeinde."

Leibniz gehört der protestantischen Gemeinde in der Neustadt an, doch lässt er sich in der St. Johanniskirche recht selten blicken, berichtet deren Pastorin Martina Trauschke:

"Er ist generell selten in den Gottesdienst gegangen, aber er ist dann eher in die Marktkirche gegangen, er war kein großer Kirchgänger. Dadurch ist ihm ja dieser Spitzname geblieben, dass er plattdeutsch der Glöve nix sei, der nichts glaubt."

Hirsch: "Er hatte einen theologischen Ansatz und der war sehr eindeutig: er liebte den Schöpfer, und damit hörte eigentlich sein Glaube auch schon auf."

Erläutert sein Biograf Eike Christian Hirsch.

"Er hat mit Jesus Christus kaum etwas anfangen können. Geliebt hat er nur den Schöpfer, den aber sehr intensiv und den hat er ja auch verteidigt."

Verteidigt hat er ihn auch, weil er sah, dass Wissenschaft und Religion, Vernunft und Glauben begannen, sich immer weiter auseinander zu bewegen. Der Philosoph Gerd Achenbach:

"Für ihn ist eine ganz wichtige Frage, nämlich ob Glaube und Vernunft, ob die miteinander – das ist die Frage, die heute den Papst vor allen Dingen interessiert, die diskutiert er dauernd, diese Frage: ist die Wirklichkeit vernünftig oder ist alles, was möglich ist, vernünftig? Und das Mögliche sind gewissermaßen die Gedanken Gottes."

Zu den Grundsätzen Leibniz’ gehörte:

"Jeder Mensch besitzt Fähigkeiten zur vernünftigen Lebensführung."

Leibniz war kein Konfessionalist, kein bedingungsloser Parteigänger Luthers.

Hirsch: "Er selbst war Protestant, nicht so sehr, weil er darin eine bestimmte Glaubensrichtung sah, sondern weil er erkannt hat, dass der Protestantismus ihm das freie Denken erlaubt. Und das hat er auch seinen katholischen Gesprächspartner gegenüber gesagt: ich bin eigentlich Katholik in dem Sinne, ich bin bei der alten Kirche, aber ich bleibe Protestant, weil ich bei euch die Geistes- und Gedankenfreiheit nicht hätte."


Er versuchte vielmehr, in jeder Religion etwas Wahres zu entdecken und dies in eine allumfassende Religion einzuordnen: Er suchte - wie in fast allen Bereichen, in denen er forschte - die Harmonie, die Synthese. Und wenn Vernunft und Religion übereinstimmten, dann war das für ihn das Größte, dann entstünde die wahrhafte Religion. Diese Sichtweise brachte den Protestanten Leibniz zeitweise auf den päpstlichen Index der verbotenen Bücher.

Die Verbindung von Vernunft und Glauben – so erläutern es Eike Christian Hirsch und Gerd Achenbach - versuchte er in seinem Buch über die Theodizee herzustellen:

"Das ist ein Wort, das er selbst erfunden hat."

Achenbach: "Was man heute so als Theodizee unter diesem Begriff kennt, ist eigentlich so was wie ein Buchtitel, das kann man übersetzen: Überlegungen zur Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt."
Hirsch: "Er ist auf das Thema gekommen, weil zu seiner Zeit einige moderne Denker und Naturwissenschaftler gegen die These argumentiert haben, wir lebten in einer guten Schöpfung. Diese Schöpfung sei eigentlich ein Verbrechen und Gott habe, wenn er es gut gemeint haben sollte, seine Arbeit sehr schlecht gemacht, das Leiden, das Unglück, sprächen gegen einen guten Schöpfer."

Leibniz fühlte sich durch diese Argumentation herausgefordert, seinen Schöpfer zu verteidigen. Er kristallisierte zunächst drei Übel in der Welt heraus. Erstens:

"Die metaphysischen Übel: das ist die Endlichkeit aller Wesen, unsere Beschränktheit, man könnte das locker ausdrücken, könnte sagen, das metaphysische Übel besteht darin, dass wir Menschen Kreaturen und nicht selbst Götter sind."

Zweitens das moralische Übel:

"Das ist noch am leichtesten zu fassen: Das ist das Böse in der Welt, die Sünde oder so mancher Mitmensch, der uns Sorgen macht. Vielleicht sind wir es ja auch selber."

Und drittens das physische Übel:

"Das ist uns allen besonders vertraut, mancher hat es noch vor sich, mancher steckt schon drin, das sind die Begleitumstände des Lebens, die hin und wieder als Schmerzen unangenehm sind oder als Krankheit."

Dass es überhaupt das Übel in der Welt gibt, erklärt sich Leibniz so.
Das Übel sei nicht ein Gott entgegen gesetztes Prinzip. Vielmehr sei die Sünde in der Welt ein Mangel an Gutem. Die Erschaffung der besten allen möglichen Welten – so Leibniz – sei nur denkbar um den Preis der Zulassung des Übels.

Hirsch: "Man kann sich eine idealere Welt ohne Leid vorstellen, aber sie ist nicht möglich."
Achenbach: "Das heißt: Leibniz hat nicht gesagt: dies ist die beste aller Welten, die ganze Pointe liegt darin, dass er gesagt hat: dieses ist die beste aller möglichen Welten,"

Hirsch: "aber er hat auch naturwissenschaftlich argumentiert, und hat gesagt, da Gott auch nicht eine kürzere Strecke zwischen zwei Punkten als die Gerade entwickeln kann, also selber an die Gegebenheiten, die er geschaffen hat, gebunden ist, kann es keine Vermeidung von Unglücken geben und der Tod gehört zum Leben; er hat das alles sehr nüchtern gesehen."
Achenbach: "Also mit anderen Worten: man kann sich wohl eine Welt ausdenken, in der es kein Schmerz, kein Jammer, kein Elend gibt, aber eine solche Welt wäre nicht möglich."

Hirsch: "Also er hat gesagt: manche wundern sich, dass manche Menschen krank werden, ich hingegen wundere mich, dass ein so komplizierter Organismus meistens gesund ist."

Spannender als den Rechtfertigungsversuch Gottes findet Gerd Achenbach, warum Leibniz überhaupt als erster die Frage nach der Theodizee gestellt hat.
"Die erste Bedingung ist die, dass man die Vorstellung hat von einem Gott, der gütig-allmächtig, barmherzig und gerecht ist. Und das ist gar nicht selbstverständlich, die Götter der Griechen und in weiten Teilen der Welt, die sind nicht unter diese Kategorie gebracht."

Autor: Zum Beispiel bei Naturkatastrophen wie einem Erdbeben oder einem Tsunami:

"Ein solcher Tsunami wäre für Griechen überhaupt kein Problem, die würden sagen, Poseidon hatte Wut, hatte mit Neptun irgendeinen Ärger gehabt, ist ganz einfach."

Autor: Auch die Juden des Alten Testaments haben bei der Sintflut von einer Strafaktion Gottes gesprochen.

"Meine Absicht ist es, die Menschen von den falschen Vorstellungen zu befreien, die ihnen Gott als einen absoluten Herrscher darstellen, despotisch ausübend; wenig geeignet und wenig wert, geliebt zu werden."

"Offensichtlich haben die Menschen den Gedanken an einen strafend in die Weltgeschichte eingreifenden Gott gecancelt, das ist auch gut so."

"Da haben die Christen noch eine Lektion durchzumachen gehabt, denn eigentlich ist ihnen dieser Gott offenbart worden als jemand, der gar nicht allmächtig ist, der sich ohnmächtig ans Kreuz schlagen muss."
"Ab jetzt gibt es einen Stellungswechsel Gottes, nämlich nicht mehr die Mächtigen sind ihm nah, sondern die Ohnmächtigen sind ihm nah, so das wir heute eine ganz andere Situation haben, wenn heute ein Unglück passiert, werden die Menschen zunächst an Gott nicht irre, sondern dann laufen sie in die Kirche."

Gottfried Wilhelm Leibniz war ein Wegbereiter zu einem neuen Gottesverständnis. Leibniz geht es nicht um die Sündenerlösung durch den Kreuzestod Jesu, sondern - dank der Güte Gottes - um die Vervollkommnung des Menschen in der Geschichte. Sein Buch "Die Theodizee" nennt Eike Christian Hirsch "die Bibel der Aufgeklärten", und in der Tat hatte das Werk einen enormen Einfluss auf den liberalen Protestantismus. Es war für viele eine Synthese zwischen Moderne und Tradition, oder eben zwischen Vernunft und Glauben.

"Ich selbst habe ja mit Kurfürstin Sophie und Abt Molanus jahrzehntelang daran gearbeitet, die christlichen Bekenntnisse wieder zusammenzuführen, allerdings waren unsere Bemühungen bislang nicht von Erfolg gekrönt, wir hoffen, dass unsere Nachfolger das Werk leicht vollenden können, denn nach meiner Einschätzung sind die Gemeinsamkeiten der christlichen Bekenntnisse sind bei weitem schwerwiegender als die Differenzen."

Mehr als 30 Jahre lang hatte Leibniz immer wieder versucht, Wege zu einer Vereinigung, einer Reunion, der katholischen und evangelischen Kirche zu finden. Er war sogar bereit, als Protestant dem Papst einen von Gott gewollten Vorrang unter den Christen einzuräumen. Doch seine Bemühungen scheiterten im politischen Kleinkrieg zwischen Berlin, Hannover, Wien und Rom. Religion war Politik, und die Politik war – trotz mancher Bemühungen – nicht Leibniz Metier.

Kurz nach dem Ende des 30-jährigen Krieges, eines Konfessionskrieges, der ja noch tobte, als Leibniz geboren wurde, waren die Gräben zwischen Katholiken und Protestanten so tief, dass man von einer Ökumene noch weit entfernt war. Die Zeit für eine Annäherung war damals noch nicht reif, meint Gerd Achenbach:

"Wenn man bedenkt, dass die größten Kriegsschrecken in Europa durchaus auch in konfessionellen Namen angerichtet wurden, da war Leibniz als Frühaufklärer tätig kraft überragender Intelligenz und Intelligenz schadet ja selten, da war der über solche Unsinnigkeiten schon lange hinaus."

"Es ist so, dass wir die Grabplatte, beschriftet mit ossa leibnitii, also die Gebeine von Leibniz ins Deutsche übersetzt, vor uns sehen und davor eingemauert die Kassette mit den Knochen von Leibniz, der hier 1716 im Dezember vier Wochen nach seinem Tod bestattet wurde."

Martina Trauschke ist die Pfarrerin der Hof- und Stadtkirche St. Johannis in Hannover, jener Gemeinde, zu der Leibniz vor rund 300 Jahren gehörte. Allerdings sagt sein Biograph Eike Christian Hirsch:

"An Riten hat er nicht teilgenommen; er hat auch auf dem Sterbebett das Erscheinen eines Pastors abgelehnt, und er ist in seinem Alter nicht zur Kirche gegangen."

Vielleicht auch, weil er in der Gemeinde wenig Gleichgesinnte fand. Aus der Zeit zwischen 1663 bis zu seinem Tod sind mehr als 20.000 Briefe an Leibniz überliefert, die er von rund 1100 Korrespondenten aus 16 Ländern erhalten hat. Trotz dieser umfangreichen Korrespondenz mit den Gelehrten in aller Welt starb Leibniz vereinsamt.

"Wahrscheinlich wusste man in Paris und London eher, dass ein außerordentlich großer Gelehrter verstorben war, aber in Hannover kümmerte man sich gar nicht darum - weder der Hof noch die Bürger der Stadt. Es war so, dass nur der Geistliche, der Generalsuperintendent Erythropel, Leibniz bestattet hat und offenbar gab es außer seinem engsten Mitarbeiter und Diener niemand, der ihm nachfolgte, bei der Beerdigung."

Mittlerweile tragen die hannoversche Universität und die Landesbibliothek seinen Namen; Leibniz ist an der Leine fast allgegenwärtig. Und auch sein theologisches Erbe ist prägend gewesen. Zwar konnte auch ein Universalgelehrter wie Leibniz letzte Antworten auf die Theodizeefrage, auf die Frage nach dem Leiden in der Welt, nicht liefern.

Achenbach: "Solche Fragen wie die Theodizeefrage werden nicht gelöst, die werden erledigt, in dem sie Interesse verlieren oder in dem man über andere Dinge redet."

Auch hat es noch keine Vereinigung der katholischen und evangelischen Kirche gegeben, aber eine ökumenische Annäherung, die vor 300 Jahren - außer vielleicht Leibniz - kaum jemand erwartet hätte; und die Frage der Beziehung zwischen Vernunft und Glauben, die Leibniz Zeit seines Lebens umtrieb, ist ein Vermächtnis, mit dem sich heute Papst Benedikt noch intensiv auseinandersetzt.