Philosoph über Politik und Empfindlichkeit

„Sensibilität ist kein Luxus“

34:40 Minuten
Illustration: Pflaster kleben den zerbrochenen Kopf einer Frau.
Sensibilität ist mehrdeutig: Schon Denker der Aufklärung erkannten in ihr eine Voraussetzung für Humanität, sagt der Philosoph Burkhard Liebsch, aber sie könne auch zu Überforderung führen. © imago images / Ikon Images / Gary Waters
Burkhard Liebsch im Gespräch mit Catherine Newmark · 20.12.2020
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Sensibilität ist zum Politikum geworden: Manche wünschen sich mehr davon, andere klagen über zu viel Empfindlichkeit im politischen Diskurs. Umstritten war Sensibilität indes schon immer, sagt der Philosoph Burkhard Liebsch.
Im politischen Raum ist Sensibilität derzeit ein großes Thema. Dabei spielt sie eine durchaus widersprüchliche Rolle. Wer ist zu sensibel, wer nicht sensibel genug? Zwischen dem Anspruch, dass die Öffentlichkeit, ja, dass jeder und jede Einzelne sich für gewisse Dinge sensibilisieren sollte, und dem Vorwurf an manche Zeitgenossen, sie seien übersensibel und fühlten sich zu schnell angegriffen, schlägt das Pendel weit aus.

Spekulationen über sensible Materie

Ist dieses Konfliktpotenzial vielleicht schon in der Geschichte des Begriffs selbst angelegt? "Man hat mit diesen Schwierigkeiten eigentlich von Anfang an zu kämpfen", bestätigt Burkhard Liebsch, Professor für Praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Schon im 18. Jahrhundert, als die Philosophie sich intensiv mit Sensibilität auseinandersetzte, sei das Phänomen sehr unterschiedlich betrachtet und bewertet worden.
So sei etwa der französische Philosoph Denis Diderot der Frage nachgegangen, ob es "sensible Materie" auch außerhalb des Reichs des Lebendigen gebe. In diesem Zusammenhang habe er Sensibilität etwa in dem Sinne aufgefasst, den später auch das Grimmsche Wörterbuch in seiner Definition festhielt: als "Fähigkeit, äußere Eindrücke wahrzunehmen und darauf zu reagieren".

Moralische Stärke oder Lernschwäche?

Neben diesem neutral beschreibenden Verständnis von Sensibilität, wie es einem bis heute beim Zahnarztbesuch begegnen kann, wenn ein Nerv auf seine Sensibilität geprüft wird, findet sich bei Diderot aber auch eine wertende Deutung des Begriffs. In der von ihm mit herausgegebenen "Encyclopédie" (1751-1772) habe er die Sensibilität als "Mutter der Humanität" verstanden und somit als eine moralisch höchst wünschenswerte menschliche Eigenschaft.
Sensibilität wurde aber keineswegs durchweg positiv bewertet. Schon in Texten des 18. Jahrhunderts sei sie auch als Schwäche gedeutet worden, so Liebsch: als Anzeichen dafür, dass Menschen "nicht robust verfasst sind und dann zu übersensiblen Reaktionen neigen".
Im 19. Jahrhundert habe sich dann die Pädagogik mit negativen Folgen einer gesteigerten Empfindlichkeit befasst: Entsprechende Schriften berichteten von Schülern, "die nervös sind, die unaufmerksam sind, die zu schnell auf Reize reagieren, die sich ablenken lassen." Zu viel Sensibilität als ADHS avant la lettre.
Porträt des Philosophen Burkhard Liebsch.
Sensibel bleiben für die Grenzen der Anderen: der Philosoph Burkhard Liebsch© privat
Gerade dort, wo Sensibilität für das gesellschaftliche Leben bis heute eine große Bedeutung besitze, trete auch ihre Ambivalenz zutage, sagt Burkhard Liebsch. So führten etwa die Debatten um sexualisierte Gewalt gegen Kinder vor Augen, dass ein Mangel an Sensibilität "zum Skandal werden" könne:
"Obwohl im 19. Jahrhundert Sozialwissenschaften entstanden sind – Soziologie, Sozialpsychologie und so weiter –, also Disziplinen, von denen man eigentlich erwarten könnte, dass sie uns ein Bild vom sozialen und gesellschaftlichen Leben vermitteln, haben wir doch im Moment den Eindruck, dass die Gesellschaft sich überhaupt erst kennenzulernen beginnt in manchen Hinsichten – also, dass sie offensichtlich nicht das Versprechen einlöst, die Schwächsten unter allen Umständen vor wenigstens eklatantestem 'Missbrauch' zu schützen."

Überlastung durch Sensibilität

Einerseits sei also endlich eine Sensibilisierung auf gesellschaftlicher Ebene zu beobachten, aus der weiterreichende Forderungen folgten, diese erhöhte Aufmerksamkeit in Institutionen zu verankern und das Personal zum Beispiel von Schulen und Kindertagesstätten entsprechend zu informieren und auszubilden. Andererseits zeige sich gerade an diesem Thema, wie eine gesteigerte Sensibilität Menschen auch besonders verwundbar mache und zu Überlastungen führen könne, so Liebsch:
"Das sieht man ja jetzt ganz deutlich bei der Nachverfolgung digitaler Spuren. Die Teams bei der Polizei, die in der unglücklichen Rolle sind, jetzt die Terabytes von Daten aufzuarbeiten, die da entdeckt worden sind, die haben ja tagtäglich mit dieser Frage der Grenze des Erträglichen zu tun, wo man auch leicht sieht, dass Sensibilität nicht in jeder Hinsicht etwas zu Bejahendes ist, als ob wir grenzenlos zu jeder Zeit und beliebig sensibilisierbar wären – so ist es mitnichten."

Unschärfen der Diskriminierung

Auch gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen fordern mehr Sensibilität für ihre Belange ein, etwa eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Diskriminierung von Frauen und Mädchen, für Alltagsrassismus und andere Formen von Ausgrenzung. Burkhard Liebsch ist allerdings skeptisch, ob sich eine solche Sensibilisierung gezielt auf die Praxis übertragen ließe, zum Beispiel auf eine Unterrichtssituation:
"Da haben Sie vielleicht 20 Schüler und Schülerinnen, und was an Diskriminierungspraktiken zwischen denen läuft, das sehen Sie vielleicht als Lehrerin gar nicht, oder es erfordert einen besonders geschulten Blick. Das bekommen Lehrer vielfach gar nicht zu Gesicht. Und ob man so eine komplexe Wahrnehmung wirklich Normen unterwerfen kann, da habe ich starke Zweifel."

Die Grenzen der anderen

Wenn in Feuilleton-Debatten mehr Sensibilität gefordert werde, etwa für Inklusion in der Schule oder für gendergerechte Sprache, dann erweckten die Diskutanten manchmal den Eindruck, "als könnte die Befolgung einer Norm von jetzt an unsere Probleme lösen", beobachtet Liebsch. Nach seiner Einschätzung hätte das wenig Aussicht auf Erfolg: "Ich glaube, die Sensibilität lässt das nicht mit sich machen."
Dabei stellt er klar: "Für mich ist Sensibilität kein Luxus, keine Zutat." Aber gerade, um ihr im praktischen Zusammenleben eine Chance zu geben, komme es auch auf eine realistische Einschätzung des Gegenübers an:
"Wenn ich jemandem Sensibilität abverlange, kann ich von vornherein nicht wissen, wo dessen Grenzen liegen", sagt Liebsch. Deshalb empfehle er, vorsichtig zu sein mit Forderungen, von denen man erwarte, dass andere sie genauso befolgen könnten wie man selbst:
"Es ist auch Ausdruck von Sensibilität, dass man immer die Frage mit im Spiel hat: Wo liegen die Grenzen der Erträglichkeit und der Ansprechbarkeit von anderen?"
(fka)

Burkhard Liebsch: "Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung"
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2008
460 Seiten, 68 Euro

Burkhard Liebsch (Hg): "Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte"
(Sonderheft 17 der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft ZAK)
Meiner Verlag, Hamburg 2018
435 Seiten, 158 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Gnadenbringende Weihnachtszeit: Erlösung vom Diktat der Selbstausbeutung
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