Philosoph Markus Gabriel über Moral heute

"Das Böse nimmt spürbar zu"

08:31 Minuten
Markus Gabriel steht vor schwarzem Hintergrund und blickt freundlich in die Kamera.
Was moralisch ist, werde verdeckt, sagt Philosoph Markus Gabriel. "Fake News zersetzen unsere Einstellung zur Wahrheit." © dpa/picture alliance/Geisler-Fotopress
Markus Gabriel im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 04.08.2020
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Propaganda, Ideologie, Fake News und Halbwahrheiten verdeckten heute, was der Mensch tun oder unterlassen soll, diagnostiziert der Philosoph Markus Gabriel. Es seien dunkle Zeiten. Dabei könne nur die Moral uns vor dem Abgrund retten.
Liane von Billerbeck: Markus Gabriel zählt zu den bekanntesten deutschen Gegenwartsphilosophen. Mit 28 war er Professor in New York. Seit er 29 ist, hat er an der Uni Bonn den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit und Gegenwart inne. Seine Bücher waren Bestseller und jetzt gibt es ein neues Werk von ihm: "Moral in dunklen Zeiten". Herr Gabriel, leben wir denn in dunklen Zeiten?
Gabriel: Und ob, muss man leider sagen. Dunkle Zeiten sind Zeiten, in denen das, was wir aus moralischen – also alle Menschen betreffenden – Gründen tun beziehungsweise unterlassen sollen, durch Propaganda, Ideologie, Fake News, Halbwahrheiten und so weiter verdeckt wird. Und je mehr solche Verdeckungsstrategien wir haben, desto dunkler die Zeiten.
Billerbeck: Das heißt Finanzkrise, Werteverfall, Krise der liberalen Demokratie, Klimawandel, Populismus, all das. Was ist die größte dieser Bedrohungen, wenn Sie die gegeneinander abwägen?
Gabriel: Die größten Bedrohungen kommen zum einen aus der Klimakatastrophe. Das ist eine echte existenzielle Gefahr, wie man das in der Philosophie heute nennt – kurzum die Selbstzerstörung der Menschheit.
Und zum anderen aus einer nicht wünschenswert organisierten Digitalisierung, also einer unethischen Digitalisierung, die gerade ebenfalls den Planeten verwüstet – durch die Selbstzerstörung der liberalen Demokratie.
Das halte ich für die derzeit gefährlichsten Katastrophen, die leider auch noch eng miteinander verzahnt sind.

Das Gute wird immer öfter in Frage gestellt

Billerbeck: Warum geht mit dieser Entwicklung die, wie Sie es in Ihrem Buch beschrieben haben, Verdunklung des moralischen Horizonts einher?
Gabriel: Der moralische Horizont besteht darin, dass wir sehen, was wir aus teils ganz offensichtlichen Gründen tun beziehungsweise unterlassen sollen: Sehr wenige von uns schubsen zum Beispiel Menschen die U-Bahn runter. Und zu Recht sind wir empört, wenn wir hören, dass das mal wieder in München oder Berlin stattgefunden hat. Das heißt, wir tun sehr häufig das moralisch offensichtlich Gute und vermeiden das Böse.
Nun ist es allerdings leider so, dass das Böse derzeit spürbar zunimmt, weil die politische Rhetorik sich verändert und weil es gigantische Manipulationsmaschinen gibt, die uns vorgaukeln, dass es gar keine moralisch objektiv existierenden Werte gibt, dass es sozusagen nur ein kulturelles Artefakt ist, dass wir Menschen nicht so häufig die U-Bahn runterstoßen, dass man das aber im Grunde genommen auch ändern könnte.
Das ist der falsche, sehr gefährliche Gedanke des Werterelativismus beziehungsweise des Wertenihilismus, der leider auch bei uns verbreitet ist. Das ist nicht etwa nur ein chinesisches oder russisches, sondern auch ein universales Problem der Menschheit.

Fake News gefährden moralisches Denken

Billerbeck: Das heißt, Fake News sind auch gefährlich für die Moral?
Gabriel: Fake News sind ganz entscheidend gefährlich für die Moral. Denn in der Moral beziehungsweise in der Ethik – der philosophischen Disziplin, die sie erforscht – geht es um objektive Wahrheiten, also darum, was wir als Menschen tun beziehungsweise unterlassen sollen.
Da gibt es keinen Unterschied zwischen uns, zwischen einer indigenen Bevölkerung in Kolumbien, den Japanern oder Subsahara-Afrikanerinnen. Es gibt keinen moralischen Unterschied zwischen Menschen – aber Fake News zersetzen unsere Einstellung zur Wahrheit.
Das ist nicht bloß besonders gefährlich, wenn es um das Coronavirus geht – das ist moralisch geradezu noch unerheblich –, sondern vor wenn es im Allgemeinen um Moralität geht. Sobald die einmal verschwindet – wenn der Horizont verdunkelt ist –, dann setzt die Dehumanisierung ein. Wir haben das ja leider in Deutschland in der bisher schlimmsten Form der Menschheitsgeschichte erlebt.
Billerbeck: Sie benutzen Begriffe wie "gut" und "böse". Auch Donald Trump hat das in den letzten Jahren sehr oft getan. In Ihrem Buch schreiben Sie, das Gute und das Böse sind universale Werte. Warum sind Sie sich da so sicher?
Gabriel: Erstens ist das eines der Hauptergebnisse der letzten 3000 Jahre Philosophiegeschichte mit einer kurzen Episode der sogenannte Postmoderne, wo man das bezweifelt hat. Das ist ein Standard in der Philosophie wie in der Mathematik die Einsicht, dass zwei plus zwei gleich vier ist.
Als Philosoph muss man das immer mitteilen, so ähnlich wie meine virologischen Kollegen die Tataschen über die Viren. Zweitens gibt es dafür natürlich eine ganze Reihe von Argumenten. Die Gegenposition zu glauben, es gäbe kein objektiv existierendes Gutes und Böses lässt sich nicht kohärent durchdenken.
Die philosophische Argumentation in meinem Buch versucht, allgemeinverständlich für alle Leserinnen und Leser zu demonstrieren, dass es das objektiv Gute geben muss, weil die Gegenposition nicht formulierbar ist.

Brecht hat sich getäuscht

Billerbeck: Wir kennen ja den Spruch "Erst kommt das Fressen und dann die Moral". Wie wäre es denn, wenn die Moral verfällt und mancher sagt, es gibt Schlimmeres?
Gabriel: Das stimmt halt nicht. Brecht hat sich getäuscht mit diesem berühmten Satz. Selbst in der schlimmsten Armut gelten natürlich moralische Standards.
Einer der Aspekte der Problemlagen bei extremer Armut ist, dass extrem arme Menschen anderen nicht mehr so leicht Gutes tun können. Das ist ein Aspekt des Demütigenden.
Brecht ist Marxist gewesen, und Marxismus ist falsch – das heißt, die Vorstellung, dass Menschen im Grunde genommen versuchen, einander auszubeuten, sodass man versuchen muss, irgendwie durch ein ökonomisches Zwangssystem Menschen in halbwegs stabilen Gesellschaften leben zu lassen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Marxismus genauso ein Ausbeutungssystem ist wie der extreme, entfesselte Kapitalismus zum Beispiel US-amerikanischer Prägung. Brecht hat deswegen einen fundamental falsches Menschenbild.
Billerbeck: Sie schreiben in Ihrem Buch, nur durch moralischen Fortschritt können wir der ökologischen Krise, Gefahren neuer Kriege und dem Erstarken des Nationalismus begegnen. Warum kann uns nur die Moral vor dem Abgrund retten?
Gabriel: Weil die Moral der Kompass ist, für uns als Individuen oder auch als Entscheidungsträger in Institutionen – sei das jetzt der lokale Supermarkt oder die Bundesregierung. Wir sind ja alle irgendwie in Institutionen beschäftigt. Nur wenn wir versuchen, moralische Einsicht zu praktizieren in unserem Alltag, können wir das Richtige tun. Das objektiv Richtige – das sagt ja schon der Titel – kann ja wohl nicht das Falsche sein.
Derzeit ist es objektiv richtig, in der Corona-Zeit alles so umzubauen, dass das Ergebnis dieses Umbaus der Gesellschaft ein genuin, ein wirklich nachhaltiges Wirtschaften ist. Oder wie ich das jüngst gesagt habe, eine Kombination aus einer indigenen Lebensform mit der modernen Technik.

Ethik tief in Bildungssystem verankern

Billerbeck: Wie kann man Menschen dazu bringen, dass sie Werte haben und danach leben und zwar so nachhaltig, wie Sie es gerade beschrieben haben?
Gabriel: Wir müssen da sehr radikal ansetzen. Deswegen fordere ich am Ende dieses Buches Philosophie und Ethik als Pflichtfach, spätestens ab der Grundschule. Man sollte natürlich schon früher beginnen. Das heißt, wir müssen Praktiken der Weisheit, der Einsicht in das, was wir tun beziehungsweise unterlassen sollen, auch rational kommunizieren und lehren können.
Diese Praktiken müssen wir tief in unserem Bildungssystem verankern, genauso wie natürlich auch eine Ethik der künstlichen Intelligenz brauchen – so dass unser Nachwuchs lernt, über ethische Fragen rational nachzudenken. Genauso muss jede Bürgerin und jeder Bürger Zugriff haben auf ethisch reflektiertes Nachdenken über die Grundlagen unseres Handelns.
Das wird derzeit ja versetzt durch die sozialen Medien, weil dort nicht rational darüber diskutiert wird, was wir tun sollen, sondern alle beschimpfen einander gegenseitig – so wie jetzt die Corona-Demonstranten die Regierung beschimpfen und die Regierung leider teilweise zurückschimpft. Das ist eine rational inakzeptable Diskussionslage für einen aufgeklärten Staat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Markus Gabriel: "Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten"
Ullstein, Berlin 2020
268 Seiten, 18 Euro

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