Philosoph Markus Gabriel

"Der Mensch ist das Tier, das keines sein will"

24:21 Minuten
Rodin-Museum: Detail der Skulptur "Der Denker" (1881-1882).
Auguste Rodins Skulptur "Der Denker" (Detail): Sinnesorgan, das wir trainieren sollten. © Godong
Markus Gabriel im Gespräch mit Stephanie Rohde · 02.09.2018
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Die Würde des Menschen entspringt der Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken. Davon ist der Philosoph Markus Gabriel überzeugt: Das Denken sei ein "sechster Sinn", den wir trainieren sollten – auch, um Vertrauen in die Demokratie zu stärken.
Wir werden die Welt und den Menschen völlig neu denken müssen, das legt Markus Gabriel in seinem neuen Buch "Der Sinn des Denkens" nah. Jahrhundertelang seien Philosophen dem fundamentalen Irrtum aufgesessen, "es gäbe einen kategorialen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt". Immanuel Kant zum Beispiel habe "völlig falsch gelegen", als er behauptete, dass wir nicht "Dinge an sich" erkennen können, sondern dass die Wirklichkeit uns immer nur indirekt zugänglich sei: gefiltert durch vorgegebene Kategorien unserer Wahrnehmung.

Denken als Sinnesorgan

Gabriel, der an der Universität Bonn Erkenntnistheorie lehrt, hält das Denkvermögen dagegen für "ein Sinnesorgan" wie Auge und Ohr: So wie wir Farben wahrnehmen, indem wir sehen, und Töne, indem wir hören, gebe es andere Aspekte der Wirklichkeit, die wir als Denkende erfassen: zum Beispiel die Anzahl von Gegenständen, die wir vor uns haben, oder die Tatsache, dass diese sich nach bekannten Naturgesetzen verhalten, indem sie etwa von oben nach unten fallen und nicht umgekehrt. Im Namen eines "Neuen Realismus" betrachtet Gabriel Gedanken daher ebenso als Teil der wirklichen Welt wie Komponisten, Elementarteilchen oder wilde Tiere:
"Der neue Realismus sagt: Stopp! Warum sollte denn das Denken weniger wirklich sein als Fermionen und Bosonen? Warum sind meine Gedanken über Beethoven weniger wirklich als Beethoven? Das leuchtet mir nicht ein, und deswegen beginnt der Neue Realismus damit, ein Konzept von Wirklichkeit zu entwickeln, das dem einfachen Umstand Rechnung trägt, dass bewusstes geistiges Leben in keinem Sinne ein verdächtigerer Einwohner des Universums ist als Fermionen oder Löwen."
Gabriel wendet sich gegen den vorherrschenden "Naturalismus", denn diese naturwissenschaftlich-technische Weltsicht stelle den Menschen als freies, geistiges Wesen in Frage:
"Das Wesen des Menschen, nämlich das Vermögen sich zu fragen, was der Mensch ist, wird an den Rand gedrängt, indem so getan wird, als hätten wir endlich eine endgültige Antwort auf die Frage gefunden, was der Mensch ist, nämlich ein hochgerüsteter Killer-Affe, der aus der Evolution entstanden ist und der bestimmte Reiz-Reaktions-Mechanismen mitbringt."

Emanzipation von der eigenen Biologie

Auf diese Weise erscheine die Entwicklung der menschlichen Spezies und ihrer Zivilisationen als bloße "Fortsetzung der Biologie mit den Mitteln von Sprache und Kultur." Gabriel hält dagegen: Was uns als Menschen auszeichne, sei gerade die Fähigkeit, von unserer biologischen Natur Abstand zu nehmen:
"Wir sind Lebewesen, deren Körper oder deren Organisation durch Jahrmillionen von Evolution entstanden ist. Wir sind aber zugleich Lebewesen, die diesen Status nur prekär haben. Das heißt, wir verhalten uns in Freiheit zu unserem eigenen Tiersein und müssen es deswegen interpretieren und können es in bestimmten Grenzen auch verändern."
Die gesellschaftliche Konsequenz des "Naturalismus" sei eine fatale Tendenz, politische Entscheidungen an "naturwissenschaftliche Expertokraten" zu delegieren, so Gabriel: "Diese angeblich perfekte Technokratie ist aber unvereinbar mit der Idee der Demokratie, weil diese in der Moderne aufbaut auf dem hohen Begriff der Freiheit und Gleichheit aller Menschen."

Verwirrspiel paralleler Wahrheiten

Ebenso vehement lehnt Markus Gabriel postmoderne und radikal-konstruktivistische Denkrichtungen ab, die einen Pluralismus unterschiedlicher Werte und Wahrheiten postulieren. Auch sie untergraben in seinen Augen das Vertrauen in die Politik, indem sie in Abrede stellen, dass wir überhaupt Zugang zu objektiven Tatsachen haben:
"Es gibt nicht verschiedene Wahrheiten. Es gibt nicht russische und chinesische Werte im Unterschied zu den jüdisch-christlich-abendländischen Werten. Was es gibt, sind ausschließlich universelle Werte, die sich aus der Selbstbestimmung des Menschen ableiten lassen. Alles andere – die Idee ‚alternativer Tatsachen‘, verschiedener Wahrheiten, die ‚kulturrelativ‘ sind, die ‚Konstruktion des Sozialen‘ und so weiter –, das sind nur Ausreden zur Vermeidung der Konfrontation mit den Tatsachen."

Drohkulisse der Massenmedien

Solche Ausreden müsse die Philosophie entlarven, so Gabriel. Die verbreiteten Bedenken, "dass der massenmediale Verkaufsapparat dazu führt, dass wir unsere Freiheit einbüßen", weil Hacker Wahlen manipulieren oder "die großen kalifornischen Unternehmen unsere Meinungsbildung beeinflussen" hält er für gefährliche Dramatisierungen:
"Dadurch verlieren die Bürgerinnen und Bürger allmählich das Vertrauen in das Wesen der Repräsentation selber, weil alle glauben, dass Wahrheit gar nicht mehr so umstandslos zugänglich ist."
Markus Gabriel plädiert demgegenüber für einen "aufgeklärten Humanismus", der das Vermögen des Menschen, kritisch zu reflektieren und "die Frage nach seinem Wesen immer wieder neu zu stellen", wieder ins Zentrum setzt:
"Humanismus, so wie ich ihn skizzieren möchte, heißt: die Anerkennung, dass die Menschenwürde in der Tat der Pfeiler jeder würdigen Selbstbestimmung in einer Gesellschaft ist."
Das Buch zum Thema:

Markus Gabriel: Der Sinn des Denkens
Ullstein, Berlin 2018
368 Seiten, 20 Euro

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