Philosoph Christoph Türcke

Wie das Internet demokratische Öffentlichkeit zerstört

29:50 Minuten
Digital stilisierte Figuren in netzwerkartigen Gruppierungen rund um Computer vor blau-abstraktem Hintergrund.
Das Internet hat sich zu einem Dschungel entwickelt, bei dem niemand mehr durchsieht, krisitiert Christoph Türcke. © imago/Science Photo Library
Moderation: Thorsten Jantschek · 09.03.2019
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Die Freiheit, dass jeder und jede sich im Internet äußern kann, bringt nicht notwendigerweise mehr demokratische Öffentlichkeit, meint Christoph Türcke. Im Gegenteil: Facebook oder Google führten uns in eine im Grunde vormoderne digitale Stammesgesellschaft.
Deutschlandfunk Kultur: Auch wenn sich in dieser Woche in Europa ein kleiner Widerstand gegen die großen Internetkonzerne und Plattformen regte – in Frankreich soll nämlich eine Digitalsteuer eingeführt werden –, sind Google und Facebook mächtige und gefährliche Giganten, die drauf und dran sind, eine gesellschaftsverändernde Wirkung zu entfalten. Das jedenfalls glaubt der Leipziger Philosoph Christoph Türcke. Herr Türcke, worin besteht denn eigentlich diese unser Gemeinwesen, die demokratische Öffentlichkeit verändernde Kraft dieser Plattformen und Giganten?
Christoph Türcke: Zunächst mal darin, dass sie die Öffentlichkeit in ihrem herkömmlichen Sinne als "res publica", als eine gemeinsame Angelegenheit, mehr oder weniger aushebeln. Das hat schon zuvor das Internet getan in seiner Frühzeit, als die große Goldgräberstimmung ausbrach und man sich sagte: Endlich können alle direkt ins Netz, direkt Öffentlichkeit machen und müssen nicht mehr über Filter gehen und damit auch über bestimmte Aufseher. Alle Redaktionen sind Aufseher. Alle Zeitungen haben ihre Aufseher darüber, was Individuen da veröffentlichen wollen – und dergleichen. Das brauchen wir nicht mehr. Wir kommen jetzt direkt ins Netz. Und damit realisiert sich überhaupt erst Öffentlichkeit. Jeder kann daran teilnehmen.
Die Kehrseite davon war: Nein, die Öffentlichkeit verschwindet dadurch, weil nun alles öffentlich wird, privat und öffentlich nicht mehr unterscheidbar ist und jede Äußerung über eine Körpernutzung oder eine Anpreisung eines Rasierapparats oder was auch immer genau den gleichen Öffentlichkeitsstatus gewinnt wie die Frage der Staatsverschuldung.
Der Philosoph und Theologe Christoph Türcke
Wenn alles öffentlich wird, löst sich Öffentlichkeit auf, meint der Philosoph und Theologe Christoph Türcke.© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Deutschlandfunk Kultur: Bevor wir auf die Plattformen kommen, lassen Sie uns noch einen Augenblick bei dieser Öffentlichkeit, die Sie eben angesprochen haben, bleiben. Öffentlichkeit, haben Sie gesagt, war mit dem Internet verbunden, ist eine enorme Erweiterung der Öffentlichkeit. Jeder kann sich an den Diskursen einer Gesellschaft beteiligen. Das klingt ja erstmal unglaublich verlockend, weil man dann sagen kann: "Ja, also, die, die sonst nur repräsentiert waren oder sich in aller Regel nicht repräsentiert fühlen, die können sich jetzt äußern".
Türcke: Fantastisch.

Jeder kommuniziert mit jedem - ist das Demokratie?

Deutschlandfunk Kultur: Ja, fantastisch. Warum braucht man überhaupt noch diese Gatekeeper, die Sie angesprochen haben? Sie beschreiben das in Ihrem Buch "Digitale Gefolgschaft" – vom Priester in den Tempeln, die die Riten kontrollieren konnten, bis hin zur Frühzeit der öffentlichen Kommunikation, als der Buchdruck losging. Immer gab es die Gatekeeper – Lektoren, Redakteure in Rundfunkanstalten zum Beispiel. Braucht es die denn wirklich noch? Oder ist dann nicht eine Gesellschaft viel demokratischer, wenn sie diese Gatekeeper nicht mehr in dieser, sagen wir, diskurshegemonialen Funktion hat?
Türcke: Das war der Tenor dabei. Und das war die große Hoffnung. Und deswegen wurde das Internet zunächst mal als der Raum der Freiheit gefeiert von den Internetpionieren. Das große Cyber-Manifest von Barlow etwa tat das in den 90er Jahren: Alle in direkter Kommunikation ohne Aufseher, der Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Endlich haben wir sie.
Deutschlandfunk Kultur: Aufklärung.
Türcke: Aufklärung, genau. – Erstes Resultat: Dieses Netz entwickelt sich in kürzester Zeit zu einem Dschungel, wo keiner mehr durchsieht. Und es müssen dringend strukturierende Maschinen her, um sich in diesem Dschungel zurechtzufinden. Und das war die große Stunde von Google und von Facebook, die einen mit der Suchmaschine, die anderen mit der "Like-Maschine", wie ich das nenne.
Die haben dann so etwas wie eine Strukturierung dieses Dschungels vorgenommen. Genial natürlich, das Geschäftsmodell, was Google da entwickelt hat, Larry Page, also toll! Aber das war jetzt so etwas wie die Strukturierung des Dschungels. Damit zugleich zeigt sich mehr und mehr die Einrichtung einer neuen Weltordnung, orientiert über die Strukturen, die diese Maschinen vorgeben. Und damit fällt ihnen ein ungeheures Gewicht zu. Und es zeigt sich immer mehr: die traditionellen Formen der Vergangenheit waren im Vergleich zu diesen neuen Weltordnern Waisenknaben.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, das ist die eine Seite. Klarerweise orientieren wir uns, auch wenn wir irgendwas ins Internet stellen, daran, dass es von Suchmaschinen gefunden werden kann. Also, das heißt, es müssen bestimmte Schlagwörter rein und so was. Ich verstehe noch nicht ganz, warum sich dadurch die Öffentlichkeit auflöst.
Türcke: Na ja, weil sie sich inflationiert und weil die Differenz zwischen sämtlichen privaten Angelegenheiten und dem, was man traditionellerweise "res publica" nannte, tendenziell verschwindet.

Das Internet gibt den Takt vor

Deutschlandfunk Kultur: Aber gerade die res publica dort, wo sie entstanden war, war ja nicht gerade demokratisch bestimmt. Im alten Athen hatten ja nur Bürger im strengen Sinne und dann auch nur Männer Zutritt zur Agora, wo die res publica, also die Sachen der Öffentlichkeit, ausgehandelt wurden.
Türcke: Ja. Also, das heißt, das war eine total defiziente res publica. Und jetzt haben wir so etwas wie eine Basisdemokratie – eigentlich ohne res publica, also, wo die res publica auch bloß ein Informationsposten ist, wie es jegliche Reklame oder jegliche private Kommunikation, das Hin- und Herschicken von Katzenbildern und sonst etwas ist. Dieses alles gerät auf den gleichen Status. Das ist das Problem. Und damit ist die res publica zwar noch da, aber vollkommen degradiert. Und die Tendenz geht eben dahin: Das brauchen wir doch alles nicht mehr. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk? Warum denn? Wir haben doch Youtube. Zeitungen? Warum denn? Jeder macht seinen Blog, ist doch viel besser. Und damit entsteht eine ungeheure Zersplitterung und noch einmal in gewisser Weise auch eine Potenzierung dieses Dschungels.
Also, die Suchmaschinen und die Like-Maschinen haben ja diese doppelte Wirkung, dass sie einerseits Schneisen schlagen in diesen Dschungel und andererseits zu seiner Expansion enorm beitragen.
Deutschlandfunk Kultur: Nun könnte man ja sagen, dass die herkömmliche Funktion von Öffentlichkeit – Sie haben das in Ihrem Buch beschrieben – als "Läuterung der Vernunft" zu sehen ist. Das heißt, eine Gesellschaft verständigt sich über ihre Anliegen, ihre Werte, ihre Normen und kommt dadurch in einen diskursiven Zusammenhang.
Kann das eigentlich eine Öffentlichkeit heute überhaupt noch leisten? Sie haben die öffentlich-rechtlichen Medien angesprochen, in denen das stattfindet schon dadurch, dass wir zur Neutralität verpflichtet sind und das auch sehr ernst nehmen, auch wenn es uns andere nachsagen, dass wir "Staatsfunk" seien oder so was in dieser Art. Die Zeitungen sind immer noch qualitätsjournalistische Medien. Also, gerade hat der "New Yorker" eine Geschichte über den Einfluss der Republikaner, insbesondere Trump, auf Fox News beschrieben. Und das ist zu einem öffentlichen Skandal geworden. Die Demokraten wollen Fox News jetzt nicht mehr bei ihren Parteiversammlungen dabei haben. Also, da funktioniert doch etwas noch ziemlich gut.
Türcke: Ja. Aber man muss hinzu sagen: Noch! Es funktioniert bereits zu den Konditionen eines neuen Mediums. Und was immer dieses neue Medium für Vorgaben macht, auf die muss man sich einstellen.
Insofern ist das so ein bisschen wie das Pfeifen im Walde, wenn dann die Betroffenen sagen, "nein, das Internet erweitert ja bloß unsere Möglichkeiten und schränkt uns gar nicht ein", weil es faktisch natürlich so aussieht: Wann immer da ein neues Medium auftaucht, Twitter, Instagram, WhatsApp, immer müssen sofort alle dort präsent sein. Sonst sind sie abgehängt.
Deutschlandfunk Kultur: Das stimmt.
Türcke: Und diese Präsenz, die kostet Zeit und Geld. Also, apropos Geld: Die Parteien haben genau mit diesem Argument, "wir müssen überall im Internet präsent sein", ihr Budget erhöht und haben das in einem Hauruckverfahren gemacht. Wir kommen sonst gar nicht hinterher. Und dann wird das Ganze als Erweiterung des Handlungsspielraums und als ein Raum neuer Gestaltungsmöglichkeiten ausgegeben, wo man de facto doch bloß hinterher rennt.
Deutschlandfunk Kultur: Ja. Was folgt daraus? Also, kann man zurückkehren zu dem klassischen Modell? "Öffentlichkeit", wie es Gutenberg formuliert hat, "sei ein höherer Zustand. Und der braucht eben so eine Art Gatekeeper-Funktion, jemand, der sagt, das kann man sagen und das kann man nicht sagen. Das klingt ja in unseren Ohren mittlerweile schon ein bisschen nach Herrschaftsdiskurs, nicht freiem Diskurs usw.
Türcke: Ja, natürlich. Wo immer Gatekeeper sind, ist auch Bevormundung. Es ist nicht nur Bevormundung. Es ist auch Fürsprache da. Das ist ja diese Doppeldeutigkeit der Repräsentation, beides zu sein – Fürsprecher und aber auch Aufseher. Das kriegt man nicht voneinander getrennt, wie man es übrigens auch in der Schule nicht voneinander getrennt bekommt bei den Lehrern.

Ein herrschaftsfreier Diskurs ist eine Illusion

Und wenn man dann nur den Blick auf die eine Seite richtet, also, der Aufseher, wir wollen keine Aufseher, und die Seite der Fürsprache, das Eintreten für die, die nicht die gleiche Stimmkraft haben oder überhaupt keine Stimmkraft haben, wenn man die Seite vollständig ausblendet, dann kommt es eben zu diesen Einseitigkeiten, das man sagt: Repräsentation ist Herrschaft. Und Repräsentation wollen wir nicht mehr. Und nun haben wir endlich die nicht mehr repräsentative Öffentlichkeit. Und die ist, wie ich fürchte, ein hölzernes Eisen. Und die rächt sich gewissermaßen an denen, die sie ignorieren wollen.
Ich habe das so beschrieben, dass ich sage: Diese Öffentlichkeit, die repräsentative Öffentlichkeit wird, wenn sie ignoriert wird, gewissermaßen zur Furie an denen, die sie ignorieren. Also, damit war gemeint so etwas wie: Kinder, Jugendliche stellen jetzt direkt ihre Sachen ins Netz, sind schon ganz früh mündig. Ja. Und dann geht alles Mögliche durchs Netz, was Sie nicht mehr zurückrufen können.
Deutschlandfunk Kultur: Dass man nichts zurückrufen kann, das sind jetzt die Schattenseiten, die Sie beschrieben haben. Es gibt aber auch das Gute daran, dass sich nämlich Menschen, die nicht zum Gatekeeper bestimmt sind oder nicht zum Repräsentanten einer Öffentlichkeit bestimmt sind, sich das Recht nehmen, Missstände aufzuklären.
Türcke: Absolut.
Deutschlandfunk Kultur: Denken wir nur an die Blogger in Ägypten oder in China, in Syrien, die für die sprechen, die man überhaupt nicht hören kann und die auch kein Mandat haben, sondern es sich einfach nehmen in diesem Internet. Und das ist ja auch eine ganz gute Angelegenheit.
Türcke: Das ist absolut eine gute Angelegenheit. Nur das verbuche ich unter den Lichtblicken und den Oasen im Dschungel, aber nicht unter einem, wie das manchmal geschieht, "anderen" Internet. Also, es gibt ja Leute, die sagen: "Ja, es gibt das Internet des Kommerzes und das Internet des Shitstorms usw. Und das wollen wir natürlich nicht. Aber es gibt auch das andere Internet." Und dann kommt alles das, was Sie jetzt anführen: "Und das wollen wir und das ist doch eine großartige Chance."
Ja, aber es gibt nicht zwei Internets, sondern wir müssen die Gewichtungsverhältnisse da mit einbeziehen. Und dann sind das eben Lichtblicke. Lichtblicke heißt, die müssen wir natürlich unterstützen. Aber das Verrückte ist, dass dann die Reste einer repräsentativen Öffentlichkeit sich gleichsam eine Nische in diesem Internet-Dschungel, der die repräsentative Öffentlichkeit ignoriert. Die ist denen Wurscht, aber ergibt eine Nische für sie und ermöglicht, dass Leute mit enormer Zivilcourage – Raif Badawi zum Beispiel in Saudi Arabien befindet sich in einem ganz furchtbaren Zustand. Aber da hat sich dann sozusagen die repräsentative Öffentlichkeit verkrochen in eine Nische in einem Gebiet, dem die repräsentative Öffentlichkeit eigentlich schnurz ist. Das ist das Paradox dabei. Und das wird selten mit bedacht.

Demokratie braucht Öffentlichkeit

Natürlich muss man diese Leute unterstützen. Natürlich müssen wir alles, was repräsentative Öffentlichkeit weiterhin gewährt, unterstützen. Natürlich bin ich der Auffassung, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk gestützt werden muss. Ja. Aber wir sehen das Gegenstück, sehr interessante Initiative, die es letztes Jahr in der Schweiz gab, "schaffen wir doch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ab…"
Deutschlandfunk Kultur: No Billag.
Türcke: No Billag heißt das, genau. "Wir wollen doch dafür keine Steuern mehr zahlen, denn wir informieren uns ja ohnehin übers Internet." Diese Initiative ist zwar abgeschmettert worden, aber was ist passiert? Der Rundfunk hat nicht etwa einen Triumph gefeiert, sondern gesagt: "Na ja, wir müssen uns aber auch auf die einstellen. Wir müssen abspecken."
Das heißt, das ist in gewisser Weise schon ein Eingeständnis und eine Konzession an diejenigen, die diese Initiative gestartet haben. Und ich fürchte, diese Konzession wird nicht dazu führen, dass man sagt, "na prima, jetzt habt ihr doch den Schuss gehört", sondern dass es dazu führt, in einiger Zeit eine neue Initiative zu starten und zu sagen: "Ihr habt ja durch euer Abspecken selber schon eingestanden, dass ihr im Grunde überflüssig seid." Dann wird die zweite Initiative gestartet und, wenn die nicht klappt, vielleicht eine dritte.
Deutschlandfunk Kultur: Schauen wir mal. Herr Türcke, Ihre Grundthese ist ja, dass die Plattformen und die Giganten im Internet, "GAFA" nennt man die ja mittlerweile, also Google, Amazon, Facebook, Apple, dass die wieder eine Standesgesellschaft erzeugen, also, im Grunde genommen in der Öffentlichkeit sowas erzeugen wie einen Rückschritt hinter die zivilisatorische Moderne und dann neue Clanstrukturen erzeugen. – Wie kommen Sie denn zu dieser starken, sehr weitreichenden These?
Türcke: Zunächst dadurch, dass die Magneten darstellen, die in ungeheuer kurzer Zeit Schwärme von Milliarden von Menschen angezogen haben. Ein Schwarm ist so etwas wie ein unterkomplexes primitives soziales Gebilde. Und diese Konstitution von solchen Schwärmen gehört mit zur neuen Weltordnung, die diese Plattformen herstellen. Also, sie sind nicht nur Ordnungsfaktoren, Orientierungsfaktoren, sodass man sich im Dschungel wieder zurechtfindet, sondern sie konstituieren auch neue soziale Gebilde, die alle eigentlich sehr archaischen alten Gebilden ähneln, nämlich Schwärmen oder Horden.

Plattformen monopolisieren Gesundheit und Verkehr

Und damit nicht genug, sondern sie sind ja längst dabei, nicht nur Informationen fluktuieren zu lassen, sondern die Menschen bei sich zu fixieren, also in ihrem Bannkreis zu halten dadurch, dass sie so etwas zu schaffen versuchen wie große Versorgungsanstalten.
Alle basteln an Modellen für Gesundheitsversorgung. Alle basteln an Modellen für Transport und Verkehr. Alle basteln in irgendeiner Weise an Bildungskonzepten, die sie dann selber übernehmen wollen und verwalten wollen, und zwar dadurch, dass überall eine immense Logistik aufgebaut wird. Es geschieht zum Teil außerordentlich raffiniert, dass also gesagt wird, "na ja, wir brauchen für die Regelung des Straßenverkehrs in der Zukunft, damit der nicht eine Katastrophe ergibt, eine internetgesteuerte Logistik". Das leuchtet ja erstmal ein. Aber dann heißt es: "Die Logistik, die entwickeln wir. Wir haben dafür das Know-how und das Datenspeicherungspotenzial."
Und die gesamte Produktion von Verkehrsmitteln gerät allmählich in diesen logistischen Sog, sodass die großen Autofirmen, Autoproduzenten zum Beispiel zu so etwas wie Zulieferern einer gigantischen Verkehrslogistik gemacht werden sollen.
Ähnliches geschieht auf dem Gesundheitssektor, wo versucht wird, Modelle auszuarbeiten, wo man zunächst mal einen großen Teil der Diagnostik an Maschinen übergibt, intelligente neue Maschinen. Ja, dann kann man diese Maschinen verwalten. Dann werden die Ärzte zu Anhängseln dieser Maschinen, die nur eingesetzt werden in nicht mehr Routinefällen. Dann wird die ganze Krankenversorgung da hineingezogen. Und dann werden den Nutzern dieses Versorgungssystems höchst günstige Tarife angeboten, weil ja alles in einer Hand ist und weil dadurch Synergieeffekte entstehen und sich diese ganze Verwaltung enorm verbilligt.
Und dann entstehen gewissermaßen ganze Lebenswelten innerhalb dieser neuen Schwarmgebilde. Und die haben etwas Hochtechnologisches einerseits selbstverständlich. Andererseits sind sie unterkomplexe archaische Gebilde. Und es gibt ja schon Tendenzen dahin, dass dann so etwas entstehen würde wie ein Facebook-Clan, ein Google-Clan, ein Amazon-Clan, also, wo die Mitglieder, die Angehörigen sich nur noch innerhalb dieses Systems – die sprechen dann von einem Ökosystem, obwohl das mit "Öko" im herkömmlichen Sinne sehr wenig zu tun hat, innerhalb eines Ökosystems bewegen und, philosophisch gesprochen, so etwas wie eigene Lebenswelten dort entstehen.

Staatliches Handeln erodiert

Deutschlandfunk Kultur: Wenn ich das richtig verstehe, also, weil Sie ja jetzt Medizin, Transport angesprochen haben, vorhin hatten Sie über Bildung gesprochen, dadurch kann man ja sagen, das sind eigentlich Kernaufgaben staatlichen Handelns und Ordnungshandelns.
Türcke: Genau.
Deutschlandfunk Kultur: Wird dadurch der Staat auch sozusagen entwertet oder entkernt?
Türcke: Ja. Die Tendenz geht genau dahin. Man weiß heutzutage kaum, man erinnert sich kaum noch, dass es bis in die 90er Jahre so etwas gab wie ein Postministerium. Durch die Informationstechnologie hat sich das schlicht aufgelöst.
Eine Verkehrslogistik, eine plattformgesteuerte Verkehrslogistik, eine plattformgesteuerte Gesundheitslogistik, die kann in durchaus absehbarer Zeit genauso Verkehrsministerium, Gesundheitsministerium, all dieses erübrigen, weil diese Plattformen kommen und sagen: "Leute, wir machen das billiger als ihr. Wir übernehmen das für euch."
Deutschlandfunk Kultur: Dem wird man nicht widersprechen, weil es tatsächlich billiger ist als ein komplizierter kontrollierender Beamtenapparat.
Türcke: Ja, genau, sodass wir gar nicht mehr wirklich sehen können, was haltbare Kernaufgaben des Staates sind. Die ganze Deregulierung hat mal ursprünglich so angefangen, dass man gesagt hat: "Na ja, wir privatisieren zum Beispiel die Bahn und wir privatisieren Krankenhäuser und wir privatisieren das Telefon. Und das können andere dann besser machen. Und dafür werden Kapazitäten frei für die Kernaufgaben des Staates. Das stärkt den Staat."
Und nun haben die Plattformen, die dabei entstanden sind, denen man gewissermaßen den kleinen Finger gegeben hat, der Privatwirtschaft, die nimmt jetzt die ganze Hand und kommt und sagt: "Pass mal auf, wir übernehmen jetzt eure Kernaufgaben. Und wir machen das doch viel billiger. Das spart euch Staatsausgaben und hilft euch bei der Umschuldung eurer hohen Staatsverschuldung etwa."

Plötzlich will Facebook die Privatssphäre schützen

Deutschlandfunk Kultur: Was muss man denn, Herr Türcke, davon halten, wenn jetzt Facebook-Chef Mark Zuckerberg in dieser Woche etwas sehr Merkwürdiges gesagt hat. Nämlich, er hat gesagt, man wolle um den Schutz der Privatsphäre willen wegkommen von diesem ganz öffentlichen Posting hin zu einer eher privaten Kommunikation auf den Plattformen, die sogar so verschlüsselt sein soll, dass selbst der Anbieter gar nicht mehr mitlesen kann und also die nötigen Daten auch nicht abfischen kann. Heißt das dann, dass auch die private Kommunikation sozusagen monopolisiert wird? Also, Mark Zuckerberg hatte gesagt: "Wenn ich über die Zukunft des Internets nachdenke, glaube ich, dass eine Kommunikationsplattform, die sich auf die Privatsphäre konzentriert, noch wichtiger werden wird als die heutigen offenen Plattformen."
Türcke: Ja, das macht er so mit dem Gestus der Philanthropie. Also: "Ich muss mich doch um die Kommunikation kümmern. Und ich habe ja nie etwas anderes gewollt, als dass die Menschen ihre Wünsche und Anliegen teilen. Und insofern muss ich das stärken." – Wenn er das tut, dann offensichtlich, weil er woanders her, aus den vielen anderen Unternehmen, die ihm inzwischen gehören, so viel Daten zieht, dass er diese Privatdaten gar nicht mehr für so interessant erachtet. Und auf der anderen Seite bleibt natürlich die Frage, ob Daten, die durch Facebook verschlüsselt werden, so weit verschlüsselt werden können, dass Facebook selber da nicht mehr herankommt. Das halte ich für nicht sehr glaubwürdig.
Also, das ist wahrscheinlich eine Public-Relation-Initiative, die er da gestartet hat, aber ich glaube nicht, dass sie wirklich ein Umschwenken und Umdenken des Unternehmens und ein Schritt zur Humanität ist. Die sitzen überall am längeren Hebel. Das ist das Problem.

Wir müssen die Notbremse ziehen

Deutschlandfunk Kultur: Da fragt man sich dann schon zum Ende unseres Gesprächs: Was kann man tun? Denn das Ganze ist entstanden, das finde ich bei Ihnen einen sehr interessanten Gedanken, auf einer großen Informalisierungswelle. Also, unsere Lebensverhältnisse sind immer weniger formal geworden. Wir unterscheiden eigentlich oft nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen öffentlich und privat usw. Die Frage ist: Wenn das die Folgen sind – Erosion des Staates, Monopolisierung der Kommunikation usw., was können wir denn eigentlich tun?
Türcke: Tja. In gewisser Weise können wir, wie Walter Benjamin das genannt hat, nur versuchen, "den Griff nach der Notbremse zu machen". Revolution war für ihn nicht die Lokomotive der Weltgeschichte, sondern der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse. Das ist eine außerordentlich hellsichtige Bemerkung gewesen, weil, sich kritisch zu all diesem verhalten bedeutet, Bremstätigkeiten auszuüben, bestimmte Formen repräsentativer Öffentlichkeit zu erhalten, zu sagen, die sind gefährdet, sie stärken, all so etwas tun.
Ja, also, unmittelbar können wir nur bremsen. Langfristig gibt es vielleicht Perspektiven, die dann doch so etwas wie ein Licht am Ende des Tunnels erkennen lassen. Weil möglicherweise so etwas im Entstehen ist wie eine neue Technologie, die in eine andere Richtung deutet, und zwar durch die Erfindung des 3D-Druckers, mit dem sich in gewisser Weise die Hochtechnologie, wie sie gegenwärtig herrschend ist, eine Art Kuckucksei ins Nest gelegt hat, weil sie nämlich die Perspektive einer neuen, auf Hochtechnologieniveau stattfindenden Selbstversorgung eröffnet, so dass der 3D-Drucker so etwas ist wie die Vorform eines Personal Producers, eines PP, der an die Seite des Personal Computers, PC, tritt. Und wenn das passieren würde, könnte in der Tat eine neue Produktionsweise der Selbstversorgung in Gang setzen. Und die hätte tatsächlich die Perspektive, die kapitalistische Vergesellschaftungsform in bestimmter Weise aufzubrechen.

Christoph Türcke: "Digitale Gefolgschaft - Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft"
Verlag C.H. Beck, München 2019
251 S., 16,95 Euro