Porajmos-Überlebende Philomena Franz

"Ich kann nicht hassen"

06:08 Minuten
Philomena Franz im Porträt
Philomena Franz wurde 1922 in Stuttgart geboren, in eine Musikerfamilie. In Auschwitz sang sie vor Heinrich Himmler, was ihr vermutlich das Leben rettete. © imago/Future Image
Von Christina-Maria Küfner · 21.07.2022
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Die Sintizza Philomena Franz hat die Gräuel der Nazis am eigenen Leib erfahren: Sie wurde ins KZ Auschwitz deportiert und verlor fast ihre ganze Familie. Darüber berichtete sie vor allem jungen Menschen. Nun wird sie 100 Jahre alt.
Eigentlich wirkt sie viel jünger. Das ist der erste Gedanke, der mir in den Kopf kommt, als ich Philomena Franz besuche. Selbstbewusst sitzt sie auf ihrem crèmefarbenen Sofa, guckt mich wach an und ist ein bisschen entrüstet, als ich frage, mit welchem Gefühl sie auf diesen besonderen Tag blickt: ihren 100. Geburtstag: „Hören Sie mal, mein Großvater ist auch so alt geworden!“
Ich schmunzle über den Scherz, muss aber sofort auch erschauern. Denn Philomena Franz ist dem Tod als junge Frau nur knapp entronnen. Fast die ganze Familie wurde in Auschwitz ermordet. Von neun Geschwistern überleben nur sie und ein Bruder.

Als junges Mädchen Operetten gesungen

Philomena Franz kommt aus einer Musikerfamilie. Der Großvater ist ein berühmter Cellist, die Mutter Sängerin. Schon als junges Mädchen steht sie auf der Bühne. Eine Erinnerung, die in ihr noch ganz lebendig ist:
„Ich habe damals als junges Mädel sämtliche Operetten singen können. Wie alt war ich da? 14, 15. Da habe ich gesungen: Am alten Brunnen, wo sich weit die Puszta dehnt, die Winde rauschen um das letzte Haus."
In den 1920er- und frühen 1930er-Jahren ist die Sinti-Familie in ganz Europa unterwegs, hat Auftritte im Lido in Paris oder im Berliner Winterarten: „Wir haben unsere Musik gemacht, wir haben unser Geld verdient, auf ehrliche Weise. Wir hatten ein schönes Haus in Stuttgart, direkt an den Weinbergen, alles wunderbar gepflegt.“

Mit 21 Jahren nach Auschwitz deportiert

Eine glückliche Zeit, die abrupt endet, als der Rassenwahn der Nationalsozialisten beginnt und neben Juden auch Sinti und Roma verfolgt werden. Philomena Franz muss die Oberschule in Stuttgart verlassen, wird zu Zwangsarbeit verpflichtet. 1943, da ist sie gerade mal 21, wird sie nach Auschwitz deportiert.
„Dann haben sie mich erst einmal – die Nase, die Ohren – alles gemessen. Die wollten wissen, wo die Sinti herkommen und so weiter. Mich haben sie auch fotografiert, von hinten und von vorne.“
Für Philomena Franz folgen viele Monate der Demütigung, der Folter und der Qualen im sogenannten Zigeuner-Lager von Auschwitz-Birkenau. Die Asche der verbrannten Leichen muss sie mit bloßen Händen aus den Öfen herausschaufeln.
„DDas war unmenschlich. Wir waren unten in den Baracken, oben war das Krematorium, in dem die Leute verbrannt wurden, und wir hatten unsere Baracken unten. Ich war auch da drin. Aber meine Zeit war halt noch nicht zu Ende.“

Himmler wünschte sich ein Lied im KZ

Dann erzählt sie mir noch von einer besonders zynischen Episode in dem KZ: „Eines Tages kam Himmler. Jedenfalls hat der Meister zu uns gesagt, das ist unsere letzte Chance, sonst gehen wir alle durch den Kamin. Wenn ihr, die ihr was könnt, jetzt nicht singt, dass wir den zufriedenstellen, dann ist Ende mit uns.“

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Himmler will nämlich, dass die KZ-Häftlinge ihn musikalisch unterhalten, als er das Vernichtungslager besucht. Philomena Franz wird ausgewählt, vor dem SS-Mann zu singen. Er wünscht sich jenes Lied, das sie mir vor wenigen Minuten vorgetragen hat: "Am alten Brunnen, wo sich weit die Puszta dehnt":
„Zum großen Glück habe ich das Lied gekannt! Da habe ich es gesungen, das hat er sich gewünscht. Mir sind selber die Tränen runter gelaufen. Abends in der Baracke habe ich gesagt: Wie ist es möglich, so ein Gipskopf, so ein Mörder, dass der so ein schönes Lied bestellt.“

Zeitzeugin für die junge Generation

Über all die Verachtung und Gräuel, die sie damals erlebt, kann Philomena Franz erst Jahre später sprechen. Doch dann will sie öffentlich machen, welches Leid ihr in der KZ-Gefangenschaft widerfahren ist – und wird Deutschlands erste Sinti-Schriftstellerin.
Außerdem tritt die Sintizza als Zeitzeugin auf, geht in Bildungseinrichtungen und Medien, vor allem aber in Schulen: „Ich habe gedacht, ich muss da anfangen, bei der jungen Generation. Die Alten kann man nicht mehr umdrehen, die sind schon versaut, aber hier kann man noch was draus machen.“
Es ist dieser unverblümte Ton von Philomena Franz, der mich völlig gefangen nimmt: direkt und hemdsärmelig, aber nie abschätzig. Ich frage noch einmal nach: Hat sie nie Verbitterung oder gar Hass gespürt, angesichts von all dem, was sie erlebt hat?
"Soll ich weitermachen, was die anderen gemacht haben? Soll ich die hassen? Ich kann nicht hassen. Wenn wir hassen, verlieren wir. Die Liebe ist eine große Bereicherung für uns Menschen. Wenn wir die Liebe nicht haben, geben wir unseren Geist auf und die Tugend – dann sind wir verloren.“
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