Philologische Fleißarbeit

Unter den religiösen Gründungstexten von Weltgeltung ist der Koran einer der jüngsten und schwierigsten, kaum übersetzbar. Von den mehr als ein Dutzend deutschen Übersetzungen des Korans sind die meisten sprachlich und wissenschaftlich veraltet. Einen wirklichen Zugang zum Heiligen Buch der Muslime liefert keine. Ob die soeben erschienene Neuübersetzung des Erlanger Professors für Islamwissenschaft, Hartmut Bobzin, bei C.H. Beck Abhilfe schafft?
Schon eine erste Stichprobe macht die Problematik klar, die auch diese Neuübersetzung prägt. In der ersten regulären Sure, der zweiten nach der gebetsformelhaften Eröffnungssure, heißt es in Bobzins Übertragung: "Dies ist das Buch, in dem kein Zweifel ist - es ist Geleit für Gottesfürchtige". Die Übersetzung "Buch" ist ein Anachronismus. Wie ein Buch lässt sich der Koran eben nicht lesen, da er keinerlei chronologischen oder sonst wie systematischen Aufbau hat. Gemeint ist hier einfach Schrift, aber Bobzin will sich nicht von der Vorstellung einer islamischen Buchreligion analog zum Christentum und Judentum trennen.

Schlägt man die Stelle im Kommentar nach, liest man dort: "Den Vers könnte man auch übersetzen: 'Dieses Buch – kein Zweifel ist in ihm (...)'." Aufmerksame Leser werden fragen, was es bedeutet, wenn ein Zweifel "in" einer Schrift ist – außer dass sie angezweifelt werden kann? Dann aber hieße der Satz sinngemäß nichts anderes als "Diese über jeden Zweifel erhabene Schrift ist ein Wegweiser für Gottesfürchtige."

Dass sich bei Bobzin auch solche vergleichsweise klaren koranischen Verse so irreführend lesen, hat einen spezifischen Grund: Bei Bobzins Übersetzung schwingt die ganze Geschichte der abendländischen Koranrezeption mit. Daher ist die Rede vom "Buch", obwohl der Koran kein Buch ist, daher die um Genauigkeit an falscher Stelle bemühte Halbherzigkeit bei der syntaktischen Einordnung des "Zweifels".

200 Seiten philologischer Kommentar hängen an den 600 Seiten der Übersetzung von Bobzin. Es ist ein kluger, von Gewissenhaftigkeit, Problembewusstsein und größten Kenntnissen zeugender Kommentar. Aber er dient weniger dem Leser als dem Übersetzer zur Absicherung gegen Kritik und als Dialog mit anderen Koranwissenschaftlern.

Mit diesen 200 Seiten soll es übrigens sein Bewenden nicht haben. Der Kommentar des Kommentars ist bereits angekündigt! In diesem Superkommentar werden laut Bobzin aber genau die Informationen stehen, ohne die eine solche Koranübersetzung kaum vernünftig gelesen werden kann. Wer jetzt Sure 96 bei Bobzin liest, bekommt mit keinem Wort auch nur einen Hinweis darauf, dass dies nach muslimischem Verständnis die erste aller offenbarten Suren ist, in jedem Fall eine der frühesten.

Die poetische Gestaltung des von Arabern als Gipfel sprachlicher Meisterschaft empfundenen Korantextes besteht bei Bobzin hauptsächlich im Reim, den er dort verwendet, wo es sich fügt, dezent, aber dafür in aller Regel anstandslos. Störend macht sich Bobzins Zug zur Wörtlichkeit bemerkbar. Die berühmte 96. Sure heißt bei Bobzin denkbar unschön "Das Anhaftende". Aber nicht Tesafilm ist gemeint, sondern etwas, aus dem der Mensch gemacht sein soll: "Trag vor im Namen deines Herrn, der ( ... ) den Menschen aus Anhaftendem schuf." Gemeint ist ein Blutklecks oder Samenflüssigkeit, wie leider erst der Kommentar erklärt.

Bobzin will in seiner Übersetzung die beiden Extremvarianten deutscher Korane, den bis zur Unlesbarkeit wörtlichen von Rudi Paret aus den 70er-Jahren und die poetische Übertragung von Rückert aus dem 19. Jahrhundert miteinander versöhnen. Das kann jedoch mit der konservativen Herangehensweise von Bobzin nicht gelingen, und so beeindruckt seine Koranübersetzung eher als philologische Fleißarbeit denn als ein wirklich neue Wege beschreitender Text.

Besprochen von Stefan Weidner

Der Koran
Neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin
Verlag C.H. Beck, München 2010
825 Seiten, 38 Euro