Philippe Sands: "Rückkehr nach Lemberg"

Vom Wert des internationalen Rechts

Philippe Sands: "Rückkehr nach Lemberg"
Philippe Sands: "Rückkehr nach Lemberg" © S. Fischer; dpa / picture alliance / Lyseiko
Von Carsten Hueck · 12.02.2018
Menschenrechtsanwalt Philippe Sands begibt sich auf die Reise in die Vergangenheit seiner Familie. Dabei zeigt er auch auf, wie in der Geschichte der Justiz "Genozid" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu international verfolgbaren Straftatbeständen wurden.
Geschichte, so formulierte es einmal der französische Historiker Marc Bloch, ist die Erforschung des Menschen in einer Zeit. Wer etwas über die Zeit weiß, in der ein Mensch lebt, versteht besser sein Handeln und Denken. Philippe Sands, von Haus aus Jurist, legt mit seinem Buch "East West Street", das nun auf Deutsch unter dem Titel "Rückkehr nach Lemberg" erschienen ist, ein spannendes Geschichtsbuch vor.
Mit literarischen Mitteln erzählt er von Menschen in ihrer Zeit. Von der eigenen Familiengeschichte ausgehend erhellt er historische Zusammenhänge und erklärt, wie es dazu gekommen ist, dass "Genozid" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu festen Bestandteilen internationaler Rechtssprechung wurden.

Spurensuche in der Familiengeschichte

Auslöser war eine Einladung an Sands, im ukrainischen Lwiw einen Vortrag zu halten. Er wusste, dass die Stadt unter dem Namen Lemberg einst zur K.-u.-k.-Monarchie gehört hatte und dass dort sein Großvater Leon geboren war. Sands, der in England aufwuchs und den Großvater immer in Paris besuchte, hatte ihn nie über seine galizische Vergangenheit sprechen gehört. Um diese "verstörende Lücke" zu füllen, recherchierte er die Geschichte der Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie war eine multikulturelle Metropole gewesen, die infolge des Ersten und dann Zweiten Weltkriegs immer wieder ihre nationale Zugehörigkeit änderte. Mit fatalen Folgen für die jüdische Bevölkerung der Stadt.
Sands entdeckte einen polnischen Pass seines Großvaters, den er immer für einen Österreicher gehalten hatte, und einen von den Nazibehörden ausgestellten Fremdenpass. Ein Stückchen Papier mit dem Namen einer Frau aus England beschäftige ihn lange Zeit – warum hatte der Großvater diesen Zettel über Jahrzehnte hinweg aufgehoben? In detektivischer Feinarbeit bekam er heraus, dass diese "Miss E.M. Tilney" im Sommer 1939 seine Mutter, damals ein Kleinkind, von Wien nach Paris gebracht hatte, wo ihr Vater Leon bereits lebte.

Internationales Recht - eine zivilisatorische Errungenschaft

Private Geschichten wie diese verknüpft Sands mit den Lebensläufen von Hans Frank, dem Nazi-Statthalter in Polen, sowie Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin. Beide jüdische Juristen, beide hatten in Lemberg studiert. Lauterpacht, der sich auch als Schüler Martin Bubers begriff, hatte nach dem Pogrom an den Lemberger Juden 1918 die Notwendigkeit erkannt, in Zeiten des erstarkenden Nationalismus Minderheiten und deren Rechte juristisch zu schützen. Er setzte sich dafür ein, dass Individuen internationale Rechte bekämen. Schließlich trug er dazu bei, dass "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" ein neuer Straftatbestand wurde.
Auch Lemkin arbeitete unermüdlich daran, das internationale Strafrecht weiterzuentwickeln. Unablässig sammelte er schon während des Krieges Erlasse und Dokumente der Nazis, um beim Nürnberger Prozess "Genozid" als Straftatbestand geltend machen zu können.
Es zeichnet das Buch aus, dass Sands darin – detailreich recherchiert – Zeitgeschichte, Rechtsgeschichte und Familiengeschichte erzählerisch in Einklang miteinander bringt. Gerade in diesen Tagen hilft es zu erkennen, was für eine bedeutsame zivilisatorische Errungenschaft internationales Recht ist. Dass es nicht abstrakt ist, sondern den Einzelnen schützt – oder für sein Handeln zur Verantwortung zieht.

Philippe Sands: "Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte"
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2018
590 Seiten, 26,00 Euro

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