Phantasien hinter der Wohnungstür

05.07.2007
Die Berliner Schriftstellerin Esther Dischereit, Jahrgang. 1952, hat sich vor allem mit der Thematik deutsch-jüdischer Assimilation einen literarischen Namen gemacht. In ihrem Erzählband "Der Morgen an dem der Zeitungsträger" bleiben die Geschichten zuweilen rätselhaft in der Schwebe, brechen mitunter abrupt ab. Es sind seelische Blitzlichter, die schlagartig Situationen gleißend erhellen, ohne sie psychologisch-realistisch aufzulösen.
Jeden Morgen lauscht eine Frau auf die Schritte des Zeitungsträgers im Treppenhaus. Mit Schwung wirft er das Blatt direkt vor die Tür. Zunächst fühlt sich die Frau von diesem permanenten Geräusch genervt, aber bald wartet sie geradezu begierig darauf. Der unbekannte Bote wird zum Spiel ihrer Fantasie: Wie sieht er wohl aus? Was ist er für ein Charakter?

Als an einem Wintermorgen das Obst verschwunden ist, das die Frau abends zwecks Frischhaltung an die Türklinke hängte, beginnt sie, versteckte Botschaften auszusenden. Sie hinterlegt kleine Gaben, auch Geld. Der anonyme Kontakt entwickelt sich in seiner sozialen Flüchtigkeit zu einem erotisch aufgeladenen Duett. Es dauert nicht lange, und die Frau steht im Nachthemd am Türspion, ängstlich, erregt - doch wird sie den Sprung aus dem Traum wagen, wird sie irgendwann die Tür öffnen?

Dieser mit 60 Seiten längste Text, der dem Band auch seinen Titel gibt, setzt die Tonlage für Esther Dischereits fein gesponnene, bisweilen rätselhafte Erzählungen. Fast immer bleiben die Protagonisten namenlos: "Er" und "sie", "die Frau", "der Mann" berichten von Begegnungen, Hoffnungen, Gefühlen in der Großstadt, an exotischen Orten. Es sind seelische Blitzlichter, die schlagartig Situationen gleißend erhellen, ohne sie psychologisch-realistisch aufzulösen.

Alles bleibt unerklärt, oft brechen die Erzählungen abrupt ab, bleiben im Wortsinn "endlose" Geschichten, die weder Richtung noch Ziel zu kennen scheinen und doch gerade dadurch ihre existenzielle Wirkung entfalten. Jede der Geschichten unseres eigenen Lebens hat einen Anfang, doch das Ende verliert sich meist im Kontinuum des Weiterlebens, das sich Tag für Tag fortschreibt.

Die Berliner Schriftstellerin Esther Dischereit, Jg. 1952, preisgekrönte Theater- und Hörspiel-Autorin, arrivierte Lyrikerin, hat sich vor allem mit der Thematik deutsch-jüdischer Assimilation einen literarischen Namen gemacht. Ihre Bücher "Joëmis Tisch - eine jüdische Geschichte", "Übungen jüdisch zu sein" umkreisen das vielschichtige Problem, als Jude nach 1945 in Deutschland zu leben.

Der oft sarkastisch-humorvolle Realismus, den Esther Dischereit hier erfolgreich erprobt hat, lässt sich nun an der bereits früher veröffentlichten Erzählung "Mit Eichmann an der Börse" ablesen: Die Jüdin Rose Roseberg legt ihre Wiedergutmachungsrente in Aktien deutscher Standardwerte an, um in ihr Traumland Italien - und damit erneut der Verfolgung Eichmanns - zu entfliehen. Der trockene Stil dieser Erzählung steht in reizvollem Kontrast zu Form und Atmosphäre der sieben anderen Texten aus "Der Morgen an dem der Zeitungsträger". Diese Erzählungen liest man bald vor allem wegen ihrer zauberhaften Sprache und der fein gewebten Motive, die eine - auch erotische - Spannung erzeugen, der man sich kaum entziehen kann. Neben der "deutsch-jüdischen" Schriftstellerin Esther Dischereit ist jetzt auch die Sprachkünstlerin neu zu entdecken.

Rezensiert von Joachim Scholl

Esther Dischereit: Der Morgen an dem der Zeitungsträger
Erzählungen. Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 2007
149 Seiten, Euro 8