Phänomenologie

Über den Körper hinaus fühlen

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Teilnehmer eines Bodybuilding-Wettkampfes in Russland (2013) © dpa/Alexandr Kryazhev
Von Tabea Grzeszyk |
Unser Leib reicht über unseren Körper hinaus. Wenn wir "Körper" sagen, meinen wir meist den biologischen Organismus. Wenig Aufmerksamkeit hingegen schenken wir unserem "Leib", mit dem wir uns und unsere Umgebung fühlend wahrnehmen.
"Cogito, ergo sum": Als der französische Philosoph René Descartes sein berühmtes Dictum – "Ich denke, also bin ich" - notierte, legte er damit den Grundstein für ein dualistisches Menschenbild, das zwischen Geist und Körper unterscheidet. Demnach ist der Geist Träger des Bewusstseins, während der Körper als eine Art "Maschine" imaginiert wird – eine Vorstellung, die bis heute etwa im körperoptimierenden Bodybuilding nachwirkt.
Die Herausgeber des Sammelbands "Leib und Leben" schicken nun eine dritte Kategorie in den philosophischen Boxring, indem sie in der Tradition Helmuth Plessners oder Maurice Merlau-Pontys zwischen Geist, Körper und Leib unterscheiden: Wir "haben" einen Körper, aber wir "sind" ein Leib – so könnte man die Grundthese zuspitzen, die zwischen einem Leib als "lebendigem Körper" und dem biologischen Körper unterscheidet. Der Körper lässt sich in Kilogramm und Zentimeter erfassen, während der subjektiv gespürte Leib nicht vermessen werden kann.
Der Begriff "Leib" leitet sich vom mittelhochdeutschen "lîp" ab, das "Leben" bedeutet: "Leib und Leben gehören ganz fest zusammen, schließlich sind wir keine Engel (also reine Geistwesen)", schreiben Martin Hähnel und Marcus Knaup im Vorwort. In neunzehn Beiträgen versammeln die beiden Herausgeber philosophische, theologische, medizinische und künstlerische Perspektiven auf den Begriff des Leibes.
Der Leib im Namen der Religion
Den Anfang macht die Philosophin Regine Kather mit einer Dekonstruktion des Descart´schen Dualismus, in der sie nicht nur den Unterschied von Körper und Geist, sondern auch zwischen Subjekt und Objekt infrage stellt. Thomas Fuchs, Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie, erläutert am Beispiel Hypochondrie und Anorexie, wie in der Krankheit der eigene Leib "fremd" werden, zum Körper werden kann. Jutta Pagel-Steidel bezeugt, wie für sie als Frau mit Körperbehinderung der eigene Leib erst durch die Wahrnehmung der anderen gewissermaßen "zum Körper" wird.
Der Sammelband endet mit der Predigt "Die Nähe des Herrn im Sakrament" von Joseph Kardinal Ratzinger/Benedikt XVI., die dieser über die Bedeutung der Kommunion 1979 in Rom gehalten hat. Der theologische Exkurs über den "Leib Christi" im Ritus der Kommunion ist mit Blick auf das Thema des Sammelbands zweifellos interessant. Doch leider läuft das Verhältnis insgesamt aus dem Ruder: Die medizinischen und künstlerischen Zugänge werden durch die Dominanz theologischer Sichtweisen an den Rand gedrängt.
Besonders ärgerlich ist es, wenn die emeritierte Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz gegen Vertreterinnen der Gender Studies zu Felde rückt, in denen sie die zeitgenössischen Feinde einer Theorie des Leibes auszumachen glaubt. Einer "Neutralisierung" der Geschlechter setzt Gerl-Falkovitz ein "schöpferisches, erlaubtes, leibhaftes Anderssein auf dem Boden gemeinsamer göttlicher Grundausstattung – mit dem Antlitz von Frau und Mann" entgegen. Spricht hier die Stimme der religiösen Restauration?
Eine ausgewogenere Gewichtung der Beiträge hätte dem Band sehr gut getan, denn abseits der theologischen Schlagseite lassen sich in "Leib und Leben" spannende und überraschende Facetten zum Thema entdecken.

Martin Hähnel/Marcus Knaup (Hg.):
"Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit"
Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt 2013
224 Seiten, 49,90 Euro