Phänomen Bismarck

Die neue Unbefangenheit mit deutscher Geschichte

Von Winfried Sträter · 01.04.2015
Wenn es um Otto von Bismarck geht, dann polarisieren sich schnell die Ansichten: Der, der Deutschland einigte? Oder der, der den Bürgern einen Obrigkeitsstaat aufzwang? Der Historiker Christoph Nonn löst sich in seiner Biografie von diesen starren Sichtweisen auf den Reichskanzler.
Der Druck weicht langsam. Der Kalte Krieg in den Köpfen, der in den großen Fragen der Zeit nur diese oder jene Lesart zuließ und keine andere. Bismarck war keine der großen Fragen der Zeit, aber eine Gestalt, die den Betrachter zwang, sich auf eine Seite zu schlagen.
Ein großer Deutscher oder ein großes Verhängnis für die Deutschen. So sehr hat sein Mythos gewirkt, dass sich Generationen von Historikern daran abgearbeitet haben. In ihrer Gegensätzlichkeit waren sie sich in einem Punkt bemerkenswert einig: dass Bismarck den Lauf der Geschichte bestimmt hat. Die Frage war nur, wie man dazu stand. Faszination für den Recken, der die deutschen Stämme zu einer Nation zusammenschweißte – oder Verdammnis für den Junker, der die deutschen Bürger in einen unfreien, obrigkeitlich-vordemokratischen Staat unter preußischer Oberaufsicht zwängte? Beide Seiten nährten den Mythos Bismarck.
Christoph Nonn löst sich vom "starren Blick" auf Bismarck
Es scheint, als ob dieser starre Blick auf den grimmigen Mann, der noch heute von zahllosen Denkmälern herabblickt, sich löst. Mit ähnlicher Unbefangenheit, wie Christopher Clark das Geschehen 1914 analysiert hat, rückt nun der Düsseldorfer Historiker Christoph Nonn dem Mythos Bismarck zu Leibe.
Er beobachtet ihn anhand seiner Briefe in der Zeit, in der er sich gerade politisch umtreibt – und erkennt einen Politiker, der keineswegs der große Lenker eines Staatsschiffs in stürmischer See ist, bis der Lotse das Schiff verlassen muss. Vielmehr beschreibt Nonn einen Preußen, der sich in seinen altbackenen Grundüberzeugungen nicht beirren lässt, diplomatisches Geschick an den Tag legt, bei der Verfolgung seiner Ziele keinen Tabubruch scheut, zugleich aber Fehleinschätzungen unterliegt, Fehler macht, scheitert.
Die Reichseinigung 1871: keine Meisterleistung Bismarcks, sondern Ergebnis eines komplexen Prozesses, in dem Zufälle, mangelndes Geschick des französischen Kaisers und die Reaktionsschnelligkeit Bismarcks eine Rolle spielten.
Bismarck verkörperte, was die Mehrheit der Deutschen wollte
Die Demokratie-Blockade Deutschlands: kein Werk Bismarcks, sondern logische Konsequenz der deutschen Übergangssituation. Eine agrarische Gesellschaft, so Nonn, die gerade eine stürmische Industrialisierung erlebt, hängt eher am bewährten Alten. Weshalb Bismarck das verkörperte, was die Mehrheit der Deutschen wollte. Nonn bezweifelt, dass die liberale Alternative Frieden und Demokratie hieß. Die Liberalen bedienten eher bürgerliche Eliten.
Das tangiert grundsätzlich herkömmliche Geschichtsbilder. Hat das Bismarckreich jenen deutschen Sonderweg eingeschlagen, der die Macht in der Mitte Europas zu einem unberechenbaren Militärstaat machte, mit verhängnisvollen Folgen? Oder - gibt es den Krieg-und-Frieden-Gegensatz zwischen westlich-liberalen Demokratien und aggressiven Autokratien à la Preußen-Deutschland überhaupt?
Nachdem Christopher Clark mit seinen Schlafwandlern alte Gewissheiten über die Entstehung des Ersten Weltkrieges in Frage gestellt hat, erweitert sich mit Nonns Bismarck-Biografie die Perspektive auf die europäische Geschichte in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs. Nach der Debatte um 1914 kann die neue Unbefangenheit, alte Gewissheiten in Frage zu stellen, interessante Debatten über die Vorgeschichte des Dramas von 1914 provozieren.

Christoph Nonn: Bismarck - Ein Preuße und sein Jahrhundert
C.H. Beck, 2015
416 Seiten, 24,95 Euro

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