Pflegeprojekt

Leben in einem Demenzdorf

Zu sehen ist der Eingang in einen Laden im sogenannten Demenzdorf im niederländischen Hogeweyk
Das Demenzdorf in Hogeweyk © picture alliance / dpa / Annette Birschel
Von Kerstin Schweighöfer · 11.12.2013
Ein Pflegeplatz im niederländischen Hogeweyk kostet 5400 Euro im Monat – egal, ob man in der "Upper Class" untergebracht ist oder bei den Handwerkern. Die Kosten sind von der Pflegepflichtversicherung gedeckt. Der Unterschied zu normalen Pflegeheimen: Hier leben Demenz-Patienten ein fast normales Leben - in einem eigenen Dorf.
Es ist warm an diesem Dezembernachmittag, so warm und sonnig, dass Betreuerin Petra van Eijk beschlossen hat, mit ihrem Schützling einen kleinen Spaziergang über den Dorfplatz zu machen, vorbei am Bäcker und der Boules-Bahn. Petra arbeitet als Betreuerin im Alzheimerdorf Hogeweyk bei Amsterdam – und ihr Schützling ist eine demente alte Dame Anfang 80.
Die ist ein bisschen ungeduldig, sie bildet sich ein, gleich Besuch zu bekommen. Petra muss sie immer wieder beruhigen. Die alte Dame wohnt erst seit Kurzem in Hogeweyk, im Haus Nummer Drei. Dort wird christlich gelebt, mit Psalmensprüchen an der Wand und Kruzifixen über der Tür, erklärt ihre Betreuerin: "Wir haben gerade zusammen christliche Lieder gesungen, so wie jeden Tag nach dem Mittagessen."
Hogeweyk gilt als innovativstes Pflegeheim für Alzheimerpatienten. Denn hier können die rund 150 schwer demenzkranken Bewohner ein Leben führen, das sich möglichst wenig von ihrem alten Leben, vor Ausbruch der Krankheit, unterscheiden soll. Das liegt nicht nur daran, dass sie alle ein eigenes Zimmer behalten können: Sie leben in einem von 23 Backsteinhäuschen in Wohngemeinschaften mit maximal sechs Mitbewohnern.
Es liegt auch nicht alleine daran, dass diese 23 Häuschen in einem kompletten Dorf liegen mit Straßen und Läden. Egal, ob Supermarkt, Frisör oder Café - alles ist vorhanden, selbst Theater und Schönheitssalon fehlen nicht. Es gibt auch einen Hausarzt und eine Praxis für Physiotherapie. Aber damit nicht genug, erklärt Sprecherin Isabella van Zuthem: "Bei uns können Alzheimerpatienten zusammen mit ihren Angehörigen auch noch aus sieben verschiedenen Lebensstilen wählen. Neben dem christlichen gibt es den kulturellen Lebensstil, den handwerklichen und den gehobenen - für reiche Menschen aus der Upper-Class. Wir haben auch noch den häuslich-zurückgezogenen und den volkstümlich-städtischen Lebensstil. Und wer aus unserer früheren Kolonie Indonesien kommt, der kann sich für den indonesischen Stil entscheiden.”
15.000 Quadratmeter Alltagssimulation
Alles soll möglichst vertraut bleiben und an das alte Leben erinnern: Wer will, kann weiterhin einkaufen oder ins Theater gehen, kochen und die Wäsche falten, im Garten Unkraut jäten oder im Schuppen handwerkeln. Auf rund 15.000 qm wird rund um die Uhr der ganz normale Alltag simuliert. "Eigentlich sind wir eine riesige Theaterbühne”, sagt Sprecherin van Zuthem.
"Auf dieser Bühne, also frontstage, bleibt für unsere Bewohner alles beim Alten, doch backstage, also hinter den Kulissen, sorgen unsere Mitarbeiter für optimale Versorgung und medizinische Hilfe – allerdings möglichst unauffällig, deshalb trägt unser Personal auch keine weißen Kittel."
Nichts soll an ein Leben im Heim erinnern. Eine Illusion natürlich – aber eine mit großem Effekt. Als Hogeweyk noch ein ganz normales Pflegeheim war, in einem Hochhaus mit langen dunklen Gängen, waren die Bewohner sehr viel unruhiger, ängstlicher und auch aggressiver. Die fremde Umgebung vergrößerte ihre Orientierungslosigkeit. Nach der Umgestaltung zum Dorf hat sich das alles gebessert. Seitdem werden auch weitaus weniger Psychopharmaka und Schlafmittel benötigt. Die Bewohner sind viel ruhiger und ausgeglichener geworden. Betreuerin Petra van Wijk kann das nur bestätigen: "Sie rufen auch weniger um Hilfe als zuvor im Hochhaus. Das liegt an der vertrauten Umgebung. Und daran, dass sich die Menschen nicht mehr eingeschlossen fühlen. Sie haben die Illusion der völligen Bewegungsfreiheit, das schafft Ruhe. Auch am Tisch, beim Essen geht es ruhiger zu, dadurch essen die Patienten jetzt viel besser."
Bislang ist das Alzheimerdorf einzigartig. Dementsprechend lang sind die Wartelisten – manchmal bis zu einem Jahr. Theo Visser hat Glück gehabt. Er fand schon nach zwei Monaten für seine Frau Corrie einen Platz. Die 80-Jährige lebt seit fünf Jahren hier, in einem Haus im volkstümlichen Lebensstil, für Stadtmenschen aus Kleine-Leute-Vierteln. Und seit fünf Jahren kommt Theo Visser jeden Tag aus dem 15 Kilometer entfernten Naarden, um seine Frau zu besuchen. Auch an diesem Nachmittag sitzt er am großen Esstisch und legt Patiencen, bis seine Frau ihren Mittagsschlaf beendet hat.
Visser hatte lange Zeit gehofft, seine Corrie trotz der Krankheit zuhause behalten zu können. Aber dann ging es einfach nicht mehr. Er ist überzeugt davon, dass seine Frau hier am besten aufgehoben ist. Am allerbesten, sagt er, "ist es natürlich, wenn man hier nicht zu sein braucht". Aber manchmal habe das Leben einen anderen Plan. Und dann müsse man sich anpassen.
"Het is niet anders, het leven is zo! "
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