Pflegeheime in Corona-Zeiten

Abstand nicht um jeden Preis

10:35 Minuten
Die Beine einer 97-jährigen Seniorin, die in einem Rollstuhl sitzt.
Manche Bewohner von Pflegeheimen wünschen sich vor allem Schutz vor dem Coronavirus, andere wollen ihre Kontakte nicht zu stark einschränken. (Symbolbild) © picture alliance / Norbert Schmidt
Ursula Hönigs im Gespräch mit Julius Stucke |
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Eine Million Menschen leben in deutschen Altenheimen: Sie sollen besonders vor dem Coronavirus geschützt werden. Doch soziale Isolation schadet Heimbewohnern ebenfalls. Wie finden wir die Balance zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit?
Seit Beginn der Coronapandemie heißt es: Wir müssen die alten Menschen schützen. Ob die das immer so wollten, diesen Schutz, steht auf einem anderen Blatt.
Nicht alle der eine Million Bewohner in deutschen Altenheimen haben gesundheitlich von Maßnahmen wie dem Kontaktverbot profitiert. Viele leiden unter Einsamkeit, Isolation und dem Wegfall von Tagesroutinen. Soziale Faktoren gelten als zentral für die Erhaltung der Gesundheit von älteren Menschen.

Schnelltests für Heime

Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sagt zur Situation der Heimbewohnerinnen im Deutschlandfunk: "Da braucht es vernünftige Konzepte, dass man sie besuchen kann, dass sie ein soziales Leben haben können. Und dass man dennoch Vorkehrungen trifft, dass keine Infektionen auftauchen."
Ein medizinisch-technisches Mittel sind die von der Bundesregierung versprochenen Schnelltests für Heime. Sie sind zwar nicht hundertprozentig zuverlässig, können aber dennoch helfen - davon ist Bundesgesundheitsminister Jens Spahn überzeugt: "Der Besucher, die Besucherin der Pflegeeinrichtung kann dann vor dem Besuch getestet werden. Das heißt übrigens nicht, dass deswegen die AHA-Regeln dann nicht mehr gelten. Wir wollen vor allem das Gesundheitswesen, die Pflegeeinrichtungen zusätzlich schützen."

Online-Petition gegen die Isolation

Auch der Kontakt der Altenheimbewohner untereinander ist in Corona-Zeiten eingeschränkt. So stark, dass Pflegerinnen in einem Coburger Altenheim jetzt eine Online-Petition gestartet haben, um die bayerische Staatsregierung zu überzeugen, die Abstandsregeln auf ein und derselben Heimetage aufzuheben.
Und sie sind nicht einzigen Pflegenden, die wieder mehr Nähe zu den Älteren schaffen wollen. Nach monatelangen Erfahrungen mit dem Virus werden Vor-Ort-Regeln oft individuell ausgelegt, müssen aber ständig neu überprüft und kommuniziert werden.
Die Journalistin Friederike Sittler, studierte Theologin und Abteilungsleiterin Hintergrund Kultur und Politik im Deutschlandfunk Kultur, formuliert die Problemlage: "Ich finde, wir müssen uns alle nur mal tief in die Augen gucken und sagen: Will ich das? Würde ich das wollen, wenn ich so alt bin? Möchte ich dann von allen geschützt werden, aber nicht mehr leben dürfen?"
Eine Frage, die schon zu Beginn der Pandemie gestellt wurde und die in der zweiten Welle wieder drängender wird: Wie kommen körperliche und seelische Gesundheit in eine Balance?

Unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Bedürfnisse

Ursula Hönigs ist eine erfahrene Altenpflegerin. In dem von ihr geleiteten Pflegeheim in Erkelenz leben 95 Menschen, die unterschiedlich stark unter den Kontaktbeschränkungen leiden:
"Da haben Sie Bewohner, die das geistig sehr rege verfolgen, was in der Gesellschaft passiert, die auch ein hohes Maß an Angst haben und einen großen Schutz für sich einfordern." Andere Bewohner würden dagegen nicht wollen, dass der Infektionsschutz ihr Leben beherrscht. Und dann gebe es die Bewohner mit kognitiven Einschränkungen, die nicht verstünden, was gerade passiert, und die man nur noch emotional erreichen könne.
"Auch bei älteren Menschen ist das eine unglaublich breite Spannbreite" so Hönigs. "Und das Gleiche haben Sie im Umgang mit den Angehörigen: Die einen sind sehr ängstlich, die anderen sehr bemüht, einen Kontakt zu halten."

Kontakt muss möglich sein

Man müsse versuchen, all diese Bedürfnisse zu erkennen und Wege zu finden, wie sie unter Corona-Bedingungen halbwegs lebbar gemacht werden können, fordert Hönigs.
Die Pflegeheimleiterin plädiert dafür, die wieder gewonnenen Möglichkeiten des Kontakts nicht erneut einzuschränken, auch wenn die Pandemie weiter voranschreitet:
"Das finde ich unglaublich wichtig. Es ist einfach ein viel zu gravierender Einschnitt in das individuelle Leben eines jeden Menschen. Erst recht in das Leben von alten Menschen. Für unsere Bewohner kann ich einfach sagen: Es muss eine Kontaktmöglichkeit bestehen."
(vb/jfr)
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